0566 - Odins Zauber

Odin, Höchster unter den Asen, richtete sich auf und stützte sich dabei auf den Speer, den Laurins Zwerge dereinst geschmiedet hatten. Der Wollmantel hüllte seine hochgewachsene Gestalt wärmend ein, und der breitkrempige Schlapphut überschattete sein Gesicht.
    Nur das gesunde Auge schien in grellem Feuer zu glühen.
    Die Raben flatterten wieder von den Schultern des Alten auf. Am Nachthimmel zogen sie ihre Kreise unter der funkelnden Sternenpracht.
    Die Kerze erlosch, als der Ase eine schnelle Handbewegung machte.
    Dafür glühte nun am Nachthimmel etwas auf und zog seine Bahn.
    Odin verfolgte die leuchtende Spur mit seinem Blick.
    Ein Raumschiff flog die Erde an.
    »Fliegt ihm nach«, raunte Odin. »Schaut und berichtet, warum wieder Ewige von den Sternen kommen, um auf dieser Welt zu wandeln. Fliegt, mein Auge und mein Ohr, und kehrt mit neuem Wissen zu mir zurück.«
    Odins Raben jagten davon, schneller als jeder andere Vogel zu fliegen vermag.
    Nur die Schmetterlinge blieben zurück.
    Schmetterlinge, so wunderbar in ihrer Farbenpracht, daß sich jeder in ihrem Anblick verlieren mußte.
    Jeder?
    Nicht Odin. Nicht der Alte, der Wanderer in den Welten, der seinen Speer als Stab benutzte und jetzt zügig voranschritt.
    Eine verloschene Kerze blieb zurück.
    ***
    »Verrückt«, murmelte der dunkelhäutige Mann. »Wer stellt denn hier eine Kerze mitten auf die Straße?«
    Er hob sie auf. Er schätzte, daß sie etwa zur Hälfte niedergebrannt war, ehe sie verloschen war. Wachstropfen waren an ihr hinabgeronnen, und auch auf dem Straßenbelag war jede Menge davon zu finden.
    Yves Cascal hob die Kerze vor sein Gesicht. Sie duftete nach Honig.
    Der Mann, den man Ombre, den Schatten, nannte, huschte von der Fahrbahn, als er die Scheinwerfer eines Autos sah. Der Fahrer bemerkte ihn vermutlich nicht mal, denn Ombre machte seinem Spitznamen alle Ehre und verschwand wie ein Schatten in der Dunkelheit.
    Von der anderen Seite näherte sich ein anderer Wagen.
    Nach den Wachsresten auf dem Asphalt zu schließen, hatte die Kerze mindestens eine Stunde lang gebrannt. Ombre verfügte über genügend Beobachtungs- und Auffassungsgabe, um das in etwa einzuschätzen.
    Aber wie konnte die Kerze so lange brennend mitten auf der Straße gestanden haben? Dies hier war zwar keine der Hauptverkehrsadern von Baton Rouge, und es herrschte auch kein Feierabendverkehr, dennoch -innerhalb von zwei Minuten rauschte gerade das vierte Auto vorbei.
    Allein der Windzug der Kraftfahrzeuge hätte die Kerze ausblasen müssen.
    Ombre ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden und setzte seinen nächtlichen Streifzug fort.
    Den Lichtstreif am Himmel hatte er nicht bemerkt.
    Über Baton Rouge lag eine Smog-Glocke, die den Sternenhimmel verhüllte…
    ***
    Drei Männer und eine Frau in silbernen Overalls saßen reglos in ihren schweren Kontursesseln. Vor ihnen glomm das holografische Bildfeld und zeigte den nächtlichen Luftraum des Planeten Gaia - oder Erde, wie diese Welt von ihren Bewohnern genannt wurde.
    Und El Paso wurde der Ort genannt, den das Kurierschiff von den Sternen nun ansteuerte.
    Natürlich würde das Raumschiff nicht auf dem Flughafen landen, sondern weit außerhalb der Stadt in der Wüste. Niemand sollte es entdecken.
    Zwei Men in Black lenkten es zum Ziel. Es waren Cyborgs in schwarzer Kleidung. Organische Roboter mit totenblasser künstlicher Haut.
    Andere Männer in Schwarz hielten sich in Bereitschaft für den Moment nach der Landung.
    Zweimal wurde das Raumschiff von Radarstrahlen erfaßt, aber beide Male wurden die Strahlen automatisch gestört und so umgelenkt, daß sie kein Echo zur Ausgangsantenne zurückwarfen.
    Auch die Ewigen lernten dazu…
    Es gab keinen Alarm.
    Und kein Mensch sah das UFO am Nachthimmel.
    Kein Mensch!
    Zwei der Ewigen wurden plötzlich unruhig. Die Landung des Kurier-Raumers erfolgte schnell und nicht von einem Leitstrahl gesteuert.
    Mit einem scharfen Befehl unterband die Kommandantin diese Unruhe.
    Das kleine Raumschiff landete inmitten einer Wüstenlandschaft…
    Und eine seltsame Veränderung ging mit ihm vor.
    Seine Oberfläche verfärbte sich. Es paßte sich der Umgebung an wie die Haut eines Chamäleons. Es wurde nahezu unsichtbar.
    Da war nur eines, was sich nicht verhindern ließ.
    Daß es einen Schatten warf…
    Aber Schatten sind so dunkel wie alles andere in der Nacht.
    ***
    In Frankreich, in Europa, war es winterlich kühl. In Florida, USA, herrschten da schon etwas höhere Temperaturen,