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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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oder nicht bestand, das Absolutum der Zeit, sie beantwortete sozusagen sich selbst. Seine Achtung vor ihr war also religiöser und, so viel er wußte, unzweifelhafter Natur. Aber eine andere Frage war, ob er sie liebte; denn das konnte er nicht, so sehr er sie achtete, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm nicht bekam. Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Nerven, sie erschöpfte ihn bald, und ganz offen gab er zu, daß er eigentlich viel mehr die freie Zeit liebe, die unbe {57} schwerte, an der nicht die Bleigewichte der Mühsal hingen, die Zeit, die offen vor einem gelegen hätte, nicht abgeteilt von zähneknirschend zu überwindenden Hindernissen. Dieser Widerstreit in seinem Verhältnis zur Arbeit bedürfte genau genommen der Auflösung. War es möglicherweise so, daß sein Körper sowohl wie sein Geist – zuerst der Geist und durch ihn auch der Körper – zur Arbeit freudiger und nachhaltiger willig gewesen wäre, wenn er im Grunde seiner Seele, dort, wo er selbst nicht Bescheid wußte, an die Arbeit als unbedingten Wert und sich selbst beantwortendes Prinzip zu glauben und sich dabei zu beruhigen vermocht hätte? Es wird damit wieder die Frage seiner Mittelmäßigkeit oder Mehr-als-Mittelmäßigkeit aufgeworfen, die wir nicht bündig beantworten wollen. Denn wir betrachten uns nicht als Hans Castorps Lobredner und lassen der Vermutung Raum, daß die Arbeit in seinem Leben einfach dem ungetrübten Genuß von Maria Mancini etwas im Wege war. –
    Zum militärischen Dienst wurde er seinerseits nicht herangezogen. Seine innere Natur widerstrebte dem und wußte es zu verhindern. Auch mochte wohl sein, daß Stabsarzt Dr. Eberding, der am Harvestehuder Weg verkehrte, von Konsul Tienappel gesprächsweise gehört hatte, daß der junge Castorp in der Nötigung sich zu bewaffnen eine empfindliche Störung seiner soeben auswärts begonnenen Studien erblicken würde.
    Sein Kopf, der langsam und gelassen arbeitete, zumal Hans Castorp die beruhigende Gewohnheit des Porterfrühstücks auch auswärts beibehielt, füllte sich mit analytischer Geometrie, Differentialrechnung, Mechanik, Projektionslehre und Graphostatik, er berechnete geladenes und ungeladenes Deplacement, Stabilität, Trimmverlagerung und Metazentrum, wenn es ihm zuweilen auch sauer wurde. Seine technischen Zeichnungen, diese Spanten-, Wasserlinien- und Längsrisse, waren nicht ganz so gut, wie seine malerische Darstellung der {58} »Hansa« auf hoher See, aber wo es galt, die geistige Anschaulichkeit durch die sinnliche zu unterstützen, Schatten zu tuschen und Querschnitte in munteren Materialfarben anzulegen, tat Hans Castorp es an Geschicklichkeit den meisten zuvor.
    Wenn er in den Ferien nach Hause kam, sehr sauber, sehr gut angezogen, mit einem kleinen rotblonden Schnurrbart in seinem schläfrigen jungen Patriziergesicht und offenbar auf dem Wege zu ansehnlichen Lebensstellungen, so sahen die Leute, die sich mit kommunalen Dingen befaßten, auch mit Familien- und Personalverhältnissen gut Bescheid wußten – und das tun die meisten in einem sich selbst regierenden Stadtstaat –, so sahen seine Mitbürger ihn prüfend an, indem sie sich fragten, in welche öffentliche Rolle der junge Castorp wohl einmal hineinwachsen werde. Er hatte ja Überlieferungen, sein Name war alt und gut, und eines Tages, das konnte beinahe nicht fehlen, würde man mit seiner Person als mit einem politischen Faktor zu rechnen haben. Er würde dann in der Bürgerschaft oder dem Bürgerausschuß sitzen und Gesetze machen, würde im Ehrenamt an den Sorgen der Souveränität teilnehmen, einer Verwaltungsabteilung, der Finanzdeputation vielleicht oder der für das Bauwesen angehören, und seine Stimme würde gehört und mitgezählt werden. Man konnte neugierig sein, wie er wohl einmal Partei bekennen würde, der junge Castorp. Äußerlichkeiten mochten täuschen, aber eigentlich sah er ganz so aus, wie man
nicht
aussah, wenn die Demokraten auf einen rechnen konnten, und die Ähnlichkeit mit dem Großvater war unverkennbar. Vielleicht würde er ihm nacharten, ein Hemmschuh werden, ein konservatives Element? Das war wohl möglich – und ebensowohl auch das Gegenteil. Denn schließlich war er ja Ingenieur, ein angehender Schiffbaumeister, ein Mann des Weltverkehrs und der Technik. Da konnte es sein, daß Hans Castorp unter die Radikalen ging, ein Draufgänger {59} wurde, ein profaner Zerstörer alter Gebäude und landschaftlicher Schönheiten, ungebunden wie ein Jude und

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