Der Zauberberg
Hausschneiderin be {71} kannte sich zu derselben Körpertemperatur, erklärte aber, daß sie sich im Gegenteil aufgeregt fühle, innerlich gespannt und rastlos, so, als stände ihr etwas Besonderes und Entscheidendes bevor, was doch gar nicht der Fall sei, sondern es sei eine körperliche Erregung ohne seelische Ursachen. Sie war doch wohl keine Hausschneiderin, denn sie sprach sehr richtig und fast gelehrt. Übrigens fand Hans Castorp diese Aufgeregtheit oder doch die Äußerung davon irgendwie unangemessen, ja fast anstößig bei einem so unscheinbaren und geringen Geschöpf. Er fragte nacheinander die Nähterin und Frau Stöhr, wie lange sie schon hier oben seien (jene lebte seit fünf Monaten, diese seit sieben in der Anstalt), suchte hierauf sein Englisch zusammen, um von seiner Nachbarin zur Rechten zu erfahren, was für einen Tee sie da trinke (es war Hagebuttentee) und ob er denn gut schmecke, was sie fast stürmisch bejahte, und sah dann in den Saal hinein, in dem man kam und ging: das erste Frühstück war keine streng gemeinsame Mahlzeit.
Er hatte ein wenig Furcht vor schreckhaften Eindrücken gehabt, aber er fand sich enttäuscht: es ging ganz aufgeräumt zu hier im Saale, man hatte nicht das Gefühl, sich an einer Stätte des Jammers zu befinden. Gebräunte junge Leute beiderlei Geschlechts kamen trällernd herein, sprachen mit den Saaltöchtern und hieben mit robustem Appetit in das Frühstück ein. Auch reifere Personen waren da, Ehepaare, eine ganze Familie mit Kindern, die Russisch sprach, auch halbwüchsige Jungen. Die Frauen trugen fast sämtlich eng anliegende Jacken aus Wolle oder Seide, sogenannte Sweater, weiß oder farbig, mit Fallkragen und Seitentaschen, und es sah hübsch aus, wenn sie, beide Hände in diese Seitentaschen vergraben, standen und plauderten. An mehreren Tischen wurden Photographien herumgezeigt, neue, selbst angefertigte Aufnahmen ohne Zweifel; an einem anderen tauschte man Briefmarken. Es wurde vom Wetter gesprochen, davon, wie man geschlafen und wieviel {72} man morgens im Munde gemessen. Die meisten waren lustig, – ohne besonderen Grund wahrscheinlich, sondern nur, weil sie keine unmittelbaren Sorgen hatten und zahlreich beisammen waren. Einzelne freilich saßen, den Kopf in die Hände gestützt, am Tische und starrten vor sich hin. Man ließ sie starren und achtete nicht auf sie.
Plötzlich zuckte Hans Castorp geärgert und beleidigt zusammen. Eine Tür war zugefallen, es war die Tür links vorn, die gleich in die Halle führte, – jemand hatte sie zufallen lassen oder gar hinter sich ins Schloß geworfen, und das war ein Geräusch, das Hans Castorp auf den Tod nicht leiden konnte, das er von jeher gehaßt hatte. Vielleicht beruhte dieser Haß auf Erziehung, vielleicht auf angeborener Idiosynkrasie, – genug, er verabscheute das Türenwerfen und hätte jeden schlagen können, der es sich vor seinen Ohren zuschulden kommen ließ. In diesem Fall war die Tür obendrein mit kleinen Glasscheiben gefüllt, und das verstärkte den Chok: es war ein Schmettern und Klirren. Pfui, dachte Hans Castorp wütend, was ist denn das für eine verdammte Schlamperei! Da übrigens in demselben Augenblick die Nähterin das Wort an ihn richtete, so hatte er keine Zeit, festzustellen, wer der Missetäter gewesen sei. Doch standen Falten zwischen seinen blonden Brauen, und sein Gesicht war peinlich verzerrt, während er der Nähterin antwortete.
Joachim fragte, ob die Ärzte schon durchgekommen seien. Ja, zum erstenmal seien sie dagewesen, antwortete jemand, – sie hätten den Saal verlassen fast in dem Augenblick, als die Vettern gekommen seien. Dann wollten sie gehen und nicht warten, meinte Joachim. Eine Gelegenheit zur Vorstellung werde sich im Laufe des Tages ja finden. Aber an der Tür wären sie fast mit Hofrat Behrens zusammengestoßen, der, gefolgt von Dr. Krokowski, im Geschwindschritt hereinkam.
»Hoppla, Achtung die Herren!« sagte Behrens. »Das hätte {73} leicht schlecht ablaufen können für die beiderseitigen Hühneraugen.« Er sprach stark niedersächsisch, breit und kauend. »So das sind
Sie
«, sagte er zu Hans Castorp, den Joachim mit zusammengezogenen Absätzen präsentierte; »na, freut mich.« Und er gab dem jungen Mann seine Hand, die groß war wie eine Schaufel. Er war ein knochiger Mann, wohl drei Köpfe höher als Dr. Krokowski, schon ganz weiß auf dem Kopf, mit heraustretendem Genick, großen, vorquellenden und blutunterlaufenen blauen Augen, in denen
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