Der zehnte Planet
die Untertasse und drehte sich um.
Jura saß auf der Armlehne des Sessels, die Beine übereinandergeschlagen, und sagte:
»Ich scherze nicht . . . Entschuldigen Sie, bitte, wenn ich Ihnen etwas Unangenehmes gesagt habe . . . Aber ich versichere Sie, daß meine Berechnungen ganz genau sind! . . . Es ist wahr, daß man von der Erde aus den Zehnten nicht beobachten kann. Ich werde auch erklären warum. Stellen Sie sich vor, Michail Sergejewitsch, daß auf derselben Bahn um die Sonne zwei, im Grunde genommen gleiche Planeten kreisen: die Erde und ihr Double, der Zehnte. In jedem Moment ihrer Bewegung befinden sie sich an den gegenüberliegenden Punkten der Bahn. Da der Durchmesser jedes dieser Planeten hundertundneunmal kleiner als der der Sonne ist, so wird die einfachste geometrische Zeichnung Ihnen sagen, warum sie füreinander unsichtbar sind . . .«
Der Gelehrte entfernte sich rückwärts von Jura und setzte sich auf den Tischrand.
Jura fuhr, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, fort:
»Stellen Sie sich vor: Zwei winzige Kügelchen kreisen an einer Stange um einen riesigen Ball, und wir beide, ganz winzig und tausendmal kleiner als die kleinste Mikrobe, befinden uns auf einem der Kügelchen . . . Können wirjemals das von dem Riesenball verdeckte gegenüberliegende Kügelchen erblicken?«
Zustimmend nickte der Gelehrte mit dem Kopf:
»Zwei Mohnkerne, die um eine große Mitschurinkirsche 5 ) laufen?«
»So ist es nämlich«, lachte Jura erfreut. »Oder noch besser: zwei Elektronen um einen Heliumkern herum. Ganz real . . .«
Die Augenbrauen des Gelehrten zogen sich zusammen.
»Die von Ihnen behauptete ‚Realität‘ — ich setze sie zwischen Anführungszeichen — wollen wir jetzt auf die einzig richtige Weise prüfen: mathematisch. Schreiben Sie die Aufgabe: ‚Die wahre Lage von Merkur ist auszurechnen . . .‘«
Jura holte einen Notizblock, schüttelte den Füllfederhalter und machte sich zum Schreiben fertig. Der Gelehrte diktierte:
»‚Von Merkur am zwanzigsten Oktober 1956, zwölf Uhr nach Sternenzeit . . .‘ Ich erinnere: der Bogen der rückwärtigen Bewegung zwölf Grad. Berechnen Sie mit Berücksichtigung der Existenz Ihres Zehnten . . .«
Jura begann mit der Berechnung und reichtebald seinem Lehrer die vollgeschriebenen Blätter des Notizblocks.
»Hm! Wir wollen prüfen«, bemerkte der Gelehrte mißtrauisch, ein Logarithmenlineal aus der Jackentasche ziehend.
Mit geübtem Blick sah er die Aufzeichnungen Juras durch, legte das Lineal an; dann lief er zum Schrank und zog aus dem Bücherstapel einen Band heraus. Hastig blätterte er ihn durch und flüsterte fast erschöpft:
»Richtig.«
Das Buch entglitt seinen plötzlich schwach gewordenen Fingern.
Jura hob das Buch auf und stellte es auf seinen früheren Platz im Schrank.
»Ich danke Ihnen, Michail Sergejewitsch . . .«, sagte Jura. »Schon längst wollte ich mich an Sie wenden, aber ich fürchtete mich etwas. Sie sind sehr streng. Heute abend wurde der Entschluß in mir reif, zu Ihnen zu gehen. Ich war dessen sicher, daß Sie meine Entdeckung ausgezeichnet verstehen würden. Aber ich möchte Sie bitten, sich endgültig davon zu überzeugen.«
»Was wollen Sie von mir?« fragte der Gelehrte völlig überrascht.
»Ich möchte Sie bitten, ihn sich gleich anzusehen . . . sich zu vergewissern . . . Vielleicht wären Sie einverstanden, gleich mit mir hinzufahren?«
Jura fügte noch etwas hinzu, aber der Gelehrte hatte es überhört. Er war zu sehr in Gedanken vertieft, die auf ihn einstürmten.
‚Das ist jedenfalls interessant. Kann man es ihm abschlagen? Wahrscheinlich lädt er mich zu sich ein, um mir seine Unterlagen zu zeigen . . . Ist es möglich, daß er diese erstaunliche Entdeckung gemacht hat? Ich fahre . . . Das Auto steht gerade vor der Tür.‘
»Ich bin einverstanden«, sagte der Gelehrte, alles auf der Welt vergessend. »Brechen wir auf.«
Zuvorkommend öffnete Jura die Tür und ließ den Gelehrten vorangehen.
Der Gelehrte ging an dem im halberleuchteten Vestibül leise schnarchenden Portier vorbei. Die starke Hand Juras stützte den Gelehrten beim Überschreiten der Schwelle der Eingangspforte, die sich geräuschlos vor ihnen auftat.
V
Die Nacht war kühl und sonderbar still. Der Gelehrte erblickte den tiefen, klaren, mit Sternen besäten Herbsthimmel. Die Schöpfkelle des Großen Bären hing im Norden rechts vom Polarstern und unterhalb von ihm. Höherstrahlten und glänzten die fünf Sterne der Kassiopeia, und
Weitere Kostenlose Bücher