Der zerbrochene Kelch
Fenton – wie oft hatte er sich über seinen bürgerlichen Namen geärgert, wenn er zu Gartenpartys und Pferderennen eingeladen worden war, bei denen junge Lords mit ihren angelsächsischen Adelstiteln und kleinen, aber unübersehbaren Siegelringen herumscharwenzelten, während er von ihnen wie ein Diener nur »Fenton« gerufen wurde. Doch meistens änderte sich dieser herablassende Ton, sobald man seine Visitenkarte mit der Adresse von Durnham Hall gesehen hatte, denn Lord Durnham war vielen bekannt.
Um den alten zurückhaltenden Lord aus East Anglia gab es viele Geschichten und Gerüchte, in denen er teilweise als harmlos, aber auch als skrupellos dargestellt wurde. Vor allem, wenn es um seine Ländereien ging, verstand Lord Durnham keinen Spaß und scheute vor Bestechung und Schlimmerem nicht zurück. Und dennoch sprachen die adligen Landbesitzer um Durnham Hall herum immer mit sehr viel Respekt über den alten Mann und gaben ihren Söhnen den Rat, Durnham und Fenton nie zu verärgern, denn man wisse nicht, was sonst geschehe.
Fenton hätte niemals geglaubt, dass Lord Durnham so viel Macht über bestimmte Menschen in der Londoner Bankenbranche haben könnte, doch als er nach dem Studium einen Job suchte, öffneten sich ihm auf einmal ungeahnte Kanäle und die besten Türen in der Londoner City. Er hatte sich die Topjobs aussuchen können – und er wusste, wem er das zu verdanken hatte. Seitdem war er bereit, für seinen Mäzen alles zu tun. Absolut alles.
Der alte Lord brauchte ihn. Das wusste er. Und er wollte sich dessen Gunst so lange wie möglich erhalten.
Durnham schien bei manchen seiner Besuche kaum bei Besinnung zu sein, doch dann war er wieder völlig klar bei Verstand, und seine dunklen Augen schienen einem jüngeren und tatkräftigeren Mann zu gehören, der noch viel zu erledigen hatte. Sehr viel.
Und dazu brauchte er ihn, Fenton, seinen jungen Geist und seinen jungen Körper.
Diesmal hatte Durnham ihn nach Athen geschickt. Gelangweilt drehte er die Zeitung um und wartete geduldig, dass er in der Menschenschlange allmählich vorwärts kam.
Wenn er jedoch die Frau mit den schulterlangen braunen Locken einige Meter vor sich bemerkt hätte, die gerade mit einem widersprüchlichen Lächeln ein großes Poster an der Wand betrachtete, wäre er sicherlich äußerst beunruhigt gewesen …
3
Karen stand wie viele Fluggäste am Abfertigungsschalter der griechischen Zollbehörde und betrachtete neben sich ein großes Plakat mit der Freiheitsstatue an der Wand und der Aufschrift »Visit New York!«, worüber sie nur schmunzeln konnte.
Ja, auf der Freiheitsstatue war sie auch gewesen, genauso wie im Madison Square Garden und im Central Park. Nur vor dem Empire State Building war sie bisher noch zurückgeschreckt, da sie sich mit ihrer Höhenangst nicht hinauftraute. Auch wenn Michael dabei war, wurde ihr allein schon bei dem Gedanken übel, dass eine Fahrstuhlanzeige den zweihundertsten Stock anzeigen könnte. Michaels Apartment lag im fünfundfünfzigsten Stock eines Gebäudes in der Upper West Side, dessen Fahrstuhl für sie in den ersten Tagen in New York schon eine Herausforderung gewesen war, aber Michael drückte immer fest ihre Hand und lenkte sie geschickt mit einem Gespräch von der Etagenanzeige ab. Immerhin entschädigte sie dann jedes Mal ein phänomenaler Blick auf den Central Park mit seinen Bäumen und Seen und den Freilichttheatern, wenn sie auf der schmalen Apartment-Terrasse stand.
Besonders The Lake und das Jaqueline Kennedy Onassis Reservoir hatten es ihr angetan, wenn sie mit Michael im Park spazieren ging. Es erinnerte sie ein wenig an Hamburg und ihre Spaziergänge an der Alster. Sie spürte dann immer wieder, wie sehr sie Hamburg vermisste, auch wenn es in New York so viele Attraktionen gab, die sie immer noch nicht alle besucht hatte, zum Beispiel das Metro politan Museum of Art, das schräg gegenüber an der Ostseite des Parks lag, oder das Guggenheim-Museum gleich daneben.
Stattdessen hatte Michael ihr Cleopatra’s Needle im Park gezeigt, einen zwanzig Meter hohen Obelisken. Das hätte er jedoch besser nicht tun sollen, denn bei Karen wurde bei dem Anblick des dreitausend Jahre alten ägyptischen Granits eine alte Wunder aufgerissen.
»Er gehört nicht hierher«, hatte sie traurig gesagt und sanft über den glatten Stein gestrichen, während sie die tiefen Hieroglyphenkolonnaden hinaufschaute.
»Das stimmt«, hatte Mansfield erwidert. »Aber er verbindet New York mit
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