Der zerbrochene Kelch
sein letzter Kuss und seine Umarmung intensiver waren als sonst, aber im Gegensatz zu ihm zweifelte sie nicht daran, dass sie sich bald wiedersehen würden. Der Aufenthalt in Griechenland war eine Recherche-Reise. Was sollte dort schon groß passieren? Er würde wie ein kurzer Urlaub verlaufen, und danach würde sie zu Michael nach New York zurückkehren. Wer oder was sollte sie daran hindern?
Plötzlich hörte sie jemanden ihren Namen rufen, und ein gut aussehender blonder junger Mann mit Stetson-Strohhut kam in der Athener Flughafenhalle auf sie zugeeilt.
»Madame Alexander? Sie müssen es sein. Sie sehen ja noch besser aus als auf dem Foto, das mir Prof. Hillairet gezeigt hat. A votre demande, Madame«, sagte er in fließendem Französisch und machte einen fast nicht erkennbaren Diener vor Karen. »Ich bin Simon Delvaux und arbeite zurzeit mit Prof. Hillairet in Delphi zusammen.
Ich soll Sie hier abholen.« Er hielt ihr die Hand hin und schenkte ihr ein fröhliches Lächeln, als er ihre Überraschung bemerkte. »Sie haben anscheinend nicht damit gerechnet, abgeholt zu werden?
»Um ehrlich zu sein, nein. Man hat mir nichts davon gesagt«, erwiderte Karen überrumpelt und warf dem jungen Mann einen skeptischen Blick zu. Sein Name kam ihr irgendwie bekannt vor, aber im Augenblick konnte sie ihn nicht zuordnen. War sie ihm früher schon mal begegnet, oder hatte sie seinen Namen irgendwo schon mal gehört? Hatte Julius ihn vielleicht erwähnt? Sie wusste es nicht mehr.
»Wie unhöflich von uns. Darf ich Ihnen den Trolley abnehmen?«, fragte Delvaux und griff hilfsbereit nach dem Reisekoffer, doch er musste einige Sekunden warten, denn Karen zögerte noch kurz, bevor sie schließlich den Koffergriff losließ und Delvaux sie mit einer weiten Armbewegung zum Ausgang dirigieren konnte.
Karen war sich nicht sicher, ob sie diesem fremden Mann einfach so folgen sollte, aber woher wusste er sonst ihren Namen, wenn nicht durch die Korrespondenz zwischen Étienne Artois und Prof. Hillairet, dem Chefarchäologen der aktuellen Ausgrabungen in Delphi? Außer ihnen wusste doch niemand, dass sie heute Nachmittag in Athen eintreffen würde, oder? Nach einigen skeptischen Sekunden entschied sie sich, ihm zu vertrauen.
»Es ist sehr nett von Ihnen, extra wegen mir nach Athen zu kommen, um mich abzuholen. Ich dachte wirklich, ich müsste ein Taxi oder einen Bus nehmen.«
Delvaux unterließ es, sie darüber aufzuklären, dass sie nicht sein einziger Grund gewesen war, weswegen er nach Athen gefahren war, und schenkte ihr stattdessen sein schönstes Lächeln.
»Ich bitte Sie, das war doch selbstverständlich. So oft bekommen wir in Delphi auch nicht Besuch. Und wenn doch, dann keinen so hübschen …«
Er betrachtete sie von der Seite und genoss ihr schelmisches Grinsen, das sie hinter ihren Locken zu verbergen suchte. Dann räusperte sie sich, rückte ihren Rucksack zurecht und versuchte das Gespräch wieder auf ein anderes Thema zu bringen. »Woher wussten Sie eigentlich, dass Sie Französisch mit mir sprechen können, Monsieur Delvaux?«
Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Das hat mir der Professor gesagt. Sehen Sie, bei der Ausgrabung wird hauptsächlich Französisch und Griechisch gesprochen plus einige Sätze in Englisch. Aber hauptsächlich eben Französisch, da die Ausgrabung von der École Française durchgeführt wird.«
»Und woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Das dürfen Sie. Aus Belgien. Ich kann sogar ein bisschen Deutsch, aber darauf sollten wir es lieber nicht ankommen lassen«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen, während Karen ein neuer Gedanke kam.
»Aber haben Sie denn keine Griechen aus dem Dorf bei Ihrer Ausgrabung?«
»Doch, aber nur solche, die Französisch oder Englisch sprechen. Glücklicherweise gibt es eine Handvoll Männer, die jahrelang Gastarbeiter in Südfrankreich waren. Die Verständigung klappt eigentlich ganz gut.«
Sie verließen den Eingangsbereich des Flughafens und gingen langsam zu einem der großen Parkplätze, auf dem Delvaux seinen Wagen abgestellt hatte.
»Arbeiten Sie eigentlich schon lange mit Prof. Hillairet zusammen?«, fragte Karen, während sie die Sonnenstrahlen und den leichten Wind genoss, der ihr um die Nase wehte.
»Nein, es ist das erste Mal. Aber er ist ein guter Archäologe, absolut zuverlässig. Er hat auch schon Ausgrabungen auf Kreta und in Mykene geleitet. Ein Vollprofi. Ich bin froh, unter ihm arbeiten zu können. Möchten Sie vielleicht
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