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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Mit meiner schwachen Stimme schrie ich aus Leibeskräften, daß ich wieder gesund sei und sofort aus dem Stall herauswolle – aber niemand kam. Also nahm ich an, daß mir keiner glaubte, was durchaus einleuchtend war. Als ich keine Zweifel mehr hegte, wieder im Vollbesitz meiner Kräfte zu sein, nahm ich die Stalltür unter die Lupe, die von außen verriegelt war und meinem Druck kein Stückchen nachgab. Nun gut, nachdem ich die Pest überlebt und mir ein Gott einen eigenen Chor versprochen hatte, sollte ich mit einer Kleinigkeit wie einer widerspenstigen Stalltür auch noch fertig werden, und ich setzte mich auf den Futtertrog und dachte scharf nach. Unglücklicherweise war ich nie darin unterrichtet worden, wie man am leichtesten aus verschlossenen Ställen ausbricht – wahrscheinlich weil der Krieg meine Ausbildung unterbrochen hatte –, wenn man einmal von der Episode aus der Odyssee absieht, in der Odysseus aus der Höhle des Zyklopen flieht; die Verse mußte ich nämlich in der Schule auswendig lernen. Allerdings bin ich noch heute der Ansicht, daß diese Begebenheit schon deshalb nicht zählt, weil ein solcher Fall ziemlich einzigartig ist und sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wiederholen wird. Als ich allmählich schon verzweifeln wollte, fiel mein Auge auf den alten schwarzen Esel meines Onkels, und mir kam eine Idee.
    Gleich nach den ersten Anzeichen meiner Genesung hatten die Tiere (die genauso hungrig waren wie ich) wieder mit dem Fressen und Trinken angefangen und ihr gesamtes Futter aufgebraucht. Jetzt wurden sie ausgesprochen unruhig, und ich sah eine Möglichkeit, wie ich mir ihr Verhalten zunutze machen konnte. Der alte schwarze Esel, den sich mein Onkel zum Transport von Oliven und zum Pflügen vor der Aussaat hielt, hatte nämlich einen störrischen Charakter, wie man ihn normalerweise nur bei Bademeistern und Kommandanten von Kriegsschiffen antrifft, und der Hunger machte ihn nicht eben liebenswerter. Ich könnte schwören, dieser Esel haßte alles und jeden auf der Welt. Mit Ausnahme anderer männlicher Esel und anstrengender Arbeit konnte er es aber am allerwenigsten ausstehen, mit einem scharfen Stock in die Rippen gestoßen zu werden. Zufällig hatte ich gerade einen solchen Stock zur Hand – er lag in einem der leeren Futtertröge –, und ich kämpfte mich so lange mit dem Esel ab, bis dessen Hinterbeine fast die Tür der Scheune berührten. Dann nahm ich den Stock und versetzte dem Esel damit den sagenhaftesten Stoß, den er jemals erhalten hatte. Tatsächlich schlug er daraufhin mit seinen kräftigen Beinen nach hinten aus und trat dabei mit voller Wucht gegen die Tür. Ich wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte, und stieß ihn ein zweites und schließlich noch ein drittes Mal in die Rippen – das war dann auch so ziemlich alles, was die Stalltür aushalten konnte. Da mittlerweile selbst der Riegel angeknackst war, verscheuchte ich den Esel sofort von der Tür und warf mich selbst dagegen. Die Tür gab nach, und ich fiel Hals über Kopf in das blendende Sonnenlicht des Hofs. Als ich mich aufrappelte, stellte ich fest, daß mein kleiner Finger wie ein abgestorbener Zweig sauber von der linken Hand abgebrochen war, obwohl ich überhaupt nichts davon gespürt hatte. Ich hob den Finger vom Boden auf und starrte ihn verdutzt an; er war zu einem schmalen weißen Stäbchen zusammengeschrumpft und roch ziemlich ekelhaft. Ich versuchte, ihn wieder an der Bruchstelle zu befestigen, aber natürlich wollte er nicht halten. Schließlich gab ich es auf und warf den Finger einfach weg. Eine Krähe, die sich mit irgendwas hinter dem Misthaufen beschäftigt hatte, flatterte herüber und hackte ein paarmal zögernd danach. Offenbar ist der Verlust von Fingern und Zehen und sogar von ganzen Händen und Füßen bei Überlebenden der Pest etwas durchaus Gewöhnliches. Damals wußte ich natürlich noch nichts davon, und darum jagte mir der abgebrochene Finger einen gehörigen Schrecken ein.
    Da stand ich nun also wieder mitten im Leben, fast gesund und schon recht munter. Ich wollte unbedingt die verdutzten Gesichter der anderen sehen, wenn ich einfach ins Haus platzen und ihnen von meiner Genesung berichten würde. Da ich in vielerlei Hinsicht ein durchaus boshaftes Kind war, hielt ich es für angebracht, meine Lieben zu überraschen. Also schlich ich mich zur Hintertür und ging auf Zehenspitzen ins Haus, wo ich meinen wie üblich nach dem Mittagessen schlafenden Großvater anzutreffen

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