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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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samt und sonders in den hintersten Winkel des Stalls zurück und kamen nicht einmal herüber, um die Blätter und Bohnenhülsen in ihrem Futtertrog zu fressen. Je hungriger sie wurden, desto mehr schienen sie die Schuld daran auf mich zu schieben. Wie Sie sich vorstellen können, gab mir ihr Verhalten fast den Rest, und eine Zeitlang dachte ich sogar daran, den Kampf gegen den Tod einfach aufzugeben.
    Ab dem siebten Tag der Krankheit brachte mir das Mädchen keine Essensreste und auch kein Wasser mehr, und ich fand mich bereits mit dem Tod ab – eine Vorstellung, an die ich vorher nicht allzu viele Gedanken verschwendet hatte. Allerdings erinnere ich mich noch an die herrliche Vorstellung, nicht mehr zur Schule gehen zu müssen. Auf der anderen Seite hielt ich es für einen ziemlichen Jammer, daß niemand mehr meine Komödien sehen könnte. Doch tröstete ich mich darüber mit der Aussicht hinweg, am Ufer des Styx endlich meinen Vater wiederzusehen, immer vorausgesetzt, ich würde ihn nach so vielen Jahren überhaupt noch wiedererkennen. Außerdem machte ich mir allmählich Sorgen, wie ich um alles in der Welt den Preis für die Überfahrt bezahlen sollte, da Charon, der Fährmann, niemanden über den Fluß setzt, wenn er nicht seinen Obolos entrichtet. Aber dann fiel mir ein, daß ich mal irgendwo gehört hatte (ich glaube, das war in einer Komödie), Charon habe sich endlich zur Ruhe gesetzt und sein Unternehmen an einen Athener verkauft, der zwar sofort den Fahrpreis auf zwei Obolen erhöht habe (das ist ja fast natürlich), dafür aber Athener umsonst übersetze. Das tröstete mich ungemein, denn der Gedanke, bis in alle Ewigkeiten mit allen Vater-, Mutter- und sonstigen Mördern und nicht richtig begrabenen Menschen auf der falschen Seite des Flusses bleiben zu müssen, hatte mich todunglücklich gemacht. Doch jetzt konnte ich mich gemütlich zurücklehnen, um in Ruhe und Frieden zu sterben.
    Seit dem Ausbruch der Krankheit hatte ich kein einziges Auge mehr zugetan, und ich glaube, ich muß damals auf der Stelle eingeschlafen sein, weil ich schwören könnte, daß ich über mir Dionysos höchstpersönlich stehen sah. Er stützte sich auf seinen mit Efeu und Reben umkränzten Thyrsosstab, trug Komödienmaske und -Stiefel, und am Unterleib baumelte ihm der schlaffe Lederphallos, den alle Schauspieler bei der Aufführung einer Komödie tragen. Der Gott schien sehr groß zu sein, und obwohl er grimmig und angetrunken wirkte, hatte ich überhaupt keine Angst vor ihm und war nicht mal besonders überrascht, ihn hier im Stall anzutreffen.
    »Laß den Kopf nicht hängen, Eupolis von Pallene«, hob er an, wobei der gesamte Stall zu beben schien, genau wie die Höhlen unten im Süden, die angeblich in der Tonhöhe der eigenen Stimme mitschwingen sollen. »Reiß dich zusammen, und hör auf zu flennen! Du wirst dich noch mit weit schlimmeren Dingen abfinden müssen als mit dieser Krankheit, bevor du mich zum letztenmal siehst – zum Beispiel in der ersten Reihe im Theater, wenn man deinen gescheit geschriebenen Chor auszischt, und natürlich im Garten hinter der Mauer. Aber denk dran, du verdankst mir einiges, und diese Gefälligkeiten mußt du mir irgendwann zurückzahlen. Außerdem habe ich dich schon von klein auf mit eigenen Händen dazu erzogen, mir die eine oder andere Komödie zu schreiben. Wenn du jetzt stirbst und ich mich deinetwegen mit diesem Schwachkopf Aristomenes begnügen muß, dann werde ich dir das niemals verzeihen.«
    Ich wollte ihm gern versprechen, nicht zu sterben, brachte aber kein Wort heraus. Deshalb nickte ich nur, unaufhörlich und immer wieder, bis ich eindeutig fest eingeschlafen war, weil ich mich noch genau an das Aufwachen erinnere. Als ich damals die Augen wieder aufschlug, wußte ich, daß ich weiterleben würde, so wie man beim Betreten eines Hauses sofort spürt, ob es bewohnt ist oder nicht. Ich weiß auch noch, daß ich eine ganze Weile einfach nur dalag. Ich war so erfüllt von Freude, daß mir richtig warm ums Herz wurde und ich vergaß, wie hungrig und unwohl ich mich fühlte; und das nicht etwa, weil ich dem Tode entronnen und von den Schmerzen der Krankheit befreit war, sondern weil ich den Gott der Komödie gesehen und er mir eine erfolgreiche Zukunft versprochen hatte. Nach meinem Dafürhalten war solch ein Versprechen die Pest wert gewesen.
    Erst sehr viel später fiel mir ein, daß ich kurz vorm Verhungern war, und ich hielt es für angebracht, etwas dagegen zu unternehmen.

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