Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Schwäche der Sozialdemokraten war, die vielleicht durch den »falschen Kandidaten« und andere interne Probleme noch verstärkt wurde, oder ob sich hier nicht ein größerer historischer Wandel zu erkennen gab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg hatte sich eine schockierte Menschheit hehre moralische Institutionen geschaffen, die einen Rückfall verhindern und den Weg in eine gute globale Zukunft begleiten sollten, etwa die Vereinten Nationen, die Europäische Gemeinschaft, die Nato, die Welthandelsorganisation und entsprechende große Institutionen in den einzelnen Staaten: Kirchen, Verbände, Diplomatie und politische Parteien. Es gab eine Zeit des Wachstums, der Industrialisierung, der Urbanisierung, die Welt änderte ihr Gesicht in nie dagewesenem Ausmaß. Heute diskutieren Forscher, ob sie unser Erdenzeitalter darum das Anthropozän, die vom Menschen gestaltete Erdenzeit, nennen sollten.
Getragen war der Schwung dieser Institutionen durch eine junge und große Bevölkerungsgruppe, heute allgemein als Babyboomer bekannt. Sie erreichen nun langsam das Rentenalter, ihre Kinder und Enkel wurden weitgehend individualisiert, materiell komfortabler und freier erzogen. Nachfolgende Generationen sind weitaus fragmentierter. Sie haben ihren eigenen Kopf, zergliedern sich in Milieus und Submilieus, die es vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht gab, tradierte hingegen zerfallen.
Nichtstaatliche Akteure wie die großen Internetfirmen, die Märkte und sogar Terrorgruppen ohne politische Repräsentation spielen eine wichtige Rolle und profitieren von der Schwäche nationaler Politik in transnationalen Fragen. Die Gesellschaft ändert sich weit schneller als die politische Repräsentation. Darum ist man da oben immer wieder überrascht von der Geschwindigkeit und Wechselhaftigkeit der Bürger, die sich morphen und verflüssigen, dann wieder flashmobartig bestimmte Entscheidungen angreifen und gerne mal einen »Shitstorm« lostreten, Richtung und Anlass stark wechselnd.
Die Stimmenanteile der beiden großen Parteien gleichen einem Gletscher in Al Gores Film über den Klimawandel, sie schmelzen immer schneller. Von der SPD sind im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zwei Blöcke abgebrochen, der ökologische und spontihafte mit den Grünen und die Linke mit dem ehemaligen SPD -Vorsitzenden. Übrig blieb eine optimierte Teilpartei der gouvernementalen Linken, Profis des Regierens in Bund und Ländern, Virtuosen aller Geschäftsordnungen, die diese Arbeit als eine intellektuelle Herausforderung begreifen und als einzigem philosophischen Trost mit Camus’ Lesart des Mythos von Sisyphos auskommen müssen. Es ist eine Partei mit einer Führung aus Intellektuellen, die die Politik als Profession gewählt haben – leider hat die Partei aber ein ganz anderes Bild von sich selbst: das eines Vereins von Kameraden, die miteinander schweigen und kämpfen können, für die Loyalität der höchste Wert ist.
Dann ist Steinbrück mit ehrenwerten, von der politischen Konkurrenz sofort kopierten Ideen – dem Primat der Bildung, einem urbanen, sachlichen Umgangsstil und dem Vertrauen auf das Mittel der Rede und der Schrift, also einem durch und durch bürgerlichen Arsenal – in die Arena gezogen. Ein vollendeter Artist trat leibhaftig und solo vor ein Publikum, das längst die überwältigenden Sensationen digitaler Effekte gewohnt war. Die Ersten begannen zu lachen. Und Steinbrück sollte es bald bereuen.
3 Der Zombie
Als ich ihn das nächste Mal Mitte Januar 2013 in Kamen treffe, tut Peer Steinbrück genau das, was das Gedicht aus dem ›Tagebuch einer Schnecke‹ als allerletzte Ressource beschreibt: Er bewegt sich vorwärts. Es ist bemerkenswert, wie schnell Politiker sich bewegen, wenn sie sich mal bewegen. Man weiß gar nicht, wer dieses Tempo vorgibt, die Artisten oder ihre Beschützer, der Zeitplan, den die Büros komponiert haben, oder die Veranstalter des jeweiligen Termins mit ihrem allmächtigen Ablauf. Es geht rasch und wie von Zauberhand. Die provinzielle Mählichkeit verfliegt: Wagentüren öffnen sich, Kameras werden beiseitegeschoben, Türen gehen auf, endlich erste bekannte Gesichter. Der Kandidat macht erst einmal ein Kamerateam fertig: »Würden Sie sich bitte vorstellen, damit ich entscheide, ob ich Ihnen ein Interview gebe?« Dann aber beantwortet er doch ganz brav alle Fragen. Es ist kalt, heute hält die Gewerkschaft IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) ihren Neujahrsempfang in der Stadthalle Kamen. Es
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