Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
irgendwie entstanden. Die Gesichter wechseln im unvorhersehbaren Takt, und man ist für die einen ein unbeschriebenes Blatt, während man für deren Kollegen ein Zimmer weiter ein alter Bekannter ist. Man wird von einem hochgestellten Mitarbeiter angerufen, der das Gespräch ganz humorvoll damit eröffnet, er habe ja »so seine Spione« überall, und da habe er etwas herausgefunden: »Wir sind Nachbarn!« Und dann bezieht er das triumphierend auf eine zwölf Jahre alte Adresse. Es kann vorkommen, dass sich jemand treffen möchte, um mal einen heiklen bis geheimen Punkt zu besprechen, der unter keinen Umständen am Telefon verhandelt werden könne, und als Ort für das Treffen schlägt seine Mitarbeiterin das Café Einstein Unter den Linden vor, wo die gesamte Berliner Republik an eng zusammenstehenden Tischen beisammensitzt und man gar nicht anders kann, als zu hören, was am Nebentisch so besprochen wird.
Und während man sich alltäglich einer Flut unerwünschter Werbe- und Infomails erwehren muss, ist die SPD die einzige mir bekannte Organisation, die einem völlig unaufgefordert die Abmeldung vom elektronischen Pressebenachrichtigungsdienst bestätigt und für das Interesse dankt. Das Büro Steinbrücks arbeitet für sich effizient und fehlerfrei, die Büros der anderen tun es auch – aber die Interaktion der Systeme ist ein Problem. Und jeder kann sagen: Wenn es nur so ginge, wie es bei mir klappt, wäre alles in Butter. Es halten sich die falschen Adressen und die losen Bezüge, die toten Links und die Fehleinschätzungen wie Irrlichter auf dem Moor.
Das erste Treffen zur Vorbesprechung dieses Buchs findet im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses statt, der Vorstandsetage. Ich hatte schon immer einen Wahlkampf begleiten wollen und kannte Steinbrück von seiner Zeit als Finanzminister in der Krise, damals hatte ich ihn für die FAZ einen Tag lang nach Brüssel begleitet. Ich war fasziniert von der Tatsache, dass die ganzen Märkte, all das Geld, im Wesentlichen nur von Worten abhängig waren, die Akteure wie Notenbankchefs oder der deutsche Finanzminister äußern, es hatte etwas von sprachmagischen Praktiken. So war es ja auch bei seinem historischen Doppelauftritt mit der Kanzlerin gewesen: Ihre Worte genügten, um alle zu beruhigen und den Run auf die Geldautomaten zu beenden. Das ganze Geld der Deutschen war durch wenige Sätze, durch eine Art Zauberspruch gerettet worden, dessen Wirkung nur so lange anhielt, wie niemand an ihr zweifelte. Diese Art, mit den Deutschen zu reden, war eine hohe Kunst und setzte eine extreme Beherrschung voraus. Damals beobachtete ich Steinbrück als Staatsmann, in einem Biotop, in das er bestens passte. Und als einen Mann des Wortes, der gerne und viel las und darüber nachdachte.
Irgendeine kumpelhafte oder gar verschwörerische Beziehung ist dabei wohlgemerkt nicht entstanden, Peer Steinbrück ist nicht der Typ für unziemliche Absprachen oder das Aushecken von geheimen Plänen, und das trifft sich gut, denn ich bin es auch nicht. Alles, was ich mit ihm erlebt habe, steht in diesem Buch.
Nun würde Steinbrück nicht mehr als Staatsmann, sondern als Parteipolitiker agieren müssen. Zwei erfahrene Genossen hatte ich kurz nach der Ausrufung Steinbrücks auf der Straße getroffen, sie bemerkten mit Sorge, dass er den Wahlkampf nicht aus einem Amt heraus führen würde, sondern allein mit der Unterstützung der Partei. Ich dachte mir, das wird die SPD schon noch hinkriegen, so einen Wahlkampf. Aber es stellte sich bald heraus, dass meine Gesprächspartner recht behielten, sie kannten den Laden einfach besser.
Das »Büro Kanzlerkandidat« ist von demonstrativer Karg- und Biederkeit. Die Filiale meiner Krankenkasse in Wiesbaden ist dagegen ein saudischer Palast. Ein paar Grünpflanzen, die Möbel wie gemietet, als solle niemand auf die Idee kommen, dies sei von Dauer oder man habe es sich hier nett oder gar teuer eingerichtet. Da war gerade die allererste Welle der Empörung wegen der hohen Vortragshonorare des Kandidaten über ihn hinweggespült, und niemand wollte etwas Luxuriöses riskieren.
Ich hatte einige Bücher über Wahlkämpfe mitgebracht, Yasmina Rezas »Frühmorgens, abends oder nachts« und natürlich den Klassiker, die sozialdemokratische Odyssee: Günter Grass’ »Tagebuch einer Schnecke«, für mich eines der schönsten seiner Bücher. Es geht dann um Bedenken, um antizipierte Komplikationen und aus dem Kreis der Mitarbeiter geäußerte Bedenken. Alles wird
Weitere Kostenlose Bücher