Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Wahlergebnis um mögliche Personalkonstellationen gegangen. Alles andere wäre auch unmenschlich.
Und es gab immer noch Europa. Bereits um kurz nach 18 Uhr und dann noch mal anderthalb Stunden später hatten sich der französische Staatspräsident François Hollande und sein deutschsprachiger Premierminister Jean-Marc Ayrault bei Sigmar Gabriel gemeldet. Ihr Wunsch war derselbe wie der anderer sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien in Europa, sogar von manchen konservativen Europäern: Beteiligt euch an der Bundesregierung und helft uns, die deutsche Austeritätspolitik zu beenden und die Not zu lindern.
Einzelne Mitarbeiter der Parteizentrale hatten den Blick auch schon fest auf den Europawahlkampf gerichtet, wenn Martin Schulz vielleicht der Spitzenkandidat würde. Die Dynamik half, die Dimension der Gefahren zu ignorieren, wie bei einer Bergwanderung. In diesem Sinne war das Grass-Gedicht sehr passend. Es wurde dazu Kölsch gereicht, eine Brauerei war Sponsor des Festes, wie auch die Berliner Kneipe namens »Ständige Vertretung«, deren Inhaber Friedel Drautzburg seinerzeit der Fahrer und Begleiter von Grass auf Wahlkampftour gewesen war. Drautzburg saß an jenem Abend in Ehren ergraut, aber vergnügt zechend an langen Tischen.
Einen Bus hatte ich bei dieser Tour nicht gebraucht, aber immerhin hatte ich, als Hommage an die Schnecke, zum Transport und zur Aufbewahrung der Textdateien einen USB -Stick in Gestalt eines kleinen, weißblauen VW -Bully benutzt. Ich war, bei mancher Nostalgie angesichts der damaligen Aufbruchsstimmung, auch erleichtert über die modernen Zeiten: Der Wahlkampf zu Grass’ Zeiten war wirklich ein Kampf gewesen. Mehrfach erhielt er Morddrohungen und fürchtete um das Leben seines Spitzenkandidaten Willy Brandt. Ein Mann, ein Veteran der SS , hatte sich auf dem Kirchentag, während Grass auf dem Podium saß, in aller Öffentlichkeit das Leben genommen. Dass Grass ebenfalls Mitglied der SS gewesen war, das erwähnte er in dem Buch, in dem er sich ausführlich mit dem Selbstmörder beschäftigte, freilich nicht. Der Bundestagswahlkampf 2013 war dagegen eine höfliche Angelegenheit. Auch hatte ich zum großen Glück nicht vor häuslichen Verhältnissen, einer sich auflösenden Ehe, zu flüchten, wie der Grass der frühen siebziger Jahre. Ich habe, vielleicht auch deswegen, nur einen Bruchteil der Termine beobachtet, die Peer Steinbrück absolviert hat, und hatte dennoch das Gefühl, oft von zu Hause weg zu sein. Wahlkampf ist ein eigener Modus, ein spezieller Ort des Lebens, eine Provinz mit weiten Bereichen großer Tristesse und seltenen Dorfplätzen des Glücks. Ich war als Beobachter privilegiert, konnte mich beliebig ein- und wieder ausklinken, wurde ohne Arg, aber auch ohne jedes Versprechen meinerseits zugelassen. Ich hätte keinen schlechten Spruch, kein dunkles Geheimnis verschwiegen, niemanden geschont. Ich habe alles so aufgeschrieben, wie ich es erlebt habe.
Beim Umherstreifen über das feuchte Fest der ratlosen Genossen traf ich fast alle wieder, die ich in jenem Jahr getroffen und gesprochen hatte. Innerlich fragte ich mich, wie sie das Buch finden würden, von dem außer dem Lektor noch niemand eine Zeile zu Gesicht bekommen hatte, ob ich manche zu harsch, andere womöglich zu freundlich porträtiert habe.
Es bleibt eine ehrliche Hochachtung vor der körperlichen, kommunikativen Form des Kandidaten, vor der konzisen Arbeit seines engeren Teams, es bleibt ein Staunen über die Filterblasen der Medien und die Ratlosigkeit einer einst großen Partei. Mein Bild dafür ist eines aus meiner Heimatstadt, aus Saarbrücken. Eine der Parteigrößen dort ist Elke Ferner, die sich wegen ihrer knallroten Haare und der entsprechenden Gesinnung auf Plakaten »die rote Elke« nennt. Sie fährt einen Dienstwagen, der sich folglich »das rote Elkemobil« nennt und entsprechende Aufkleber und Schriftzüge trägt. Die Farbe des Autos aber ist blau.
Bevor ich das Fest verlasse, drehe ich eine letzte Runde und gerate vor der Bühne in einen kleinen Auflauf. Drei oder vier aufgekratzte, elegante junge Frauen umringen einen leicht überforderten Peer Steinbrück. Sie möchten ein iPhone-Foto mit ihm, und da ich gerade auftauche, werde ich zum Spontanfotografen ernannt. Es blitzt, die Gruppe ist laut, die Frauen lachen wie verrückt und Steinbrück versucht mehr schlecht als recht, sein gutes Fotogesicht zu machen. Alle werden nass, der Rasen ist schon ganz glitschig, die kleine
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