Der Zug war pünktlich
ganze graue trostlose und müde Schlange rennt, weil einer angefangen hat, Angst zu bekommen …
»Wo hast du die Karte?« fragt der Blonde. Es ist das erste Wort, das sie seit langem miteinander wechseln.
Andreas zieht die Karte aus seiner Rocktasche, entfaltet sie und richtet sich auf; er breitet sie auf den Knien aus.
Seine Augen blicken dahin, wo Galizien steht, aber der Finger des Blonden liegt viel weiter südlich und östlich, es 55
ist ein langer, sehr feiner, mattbehaarter Finger, dem auch der Schmutz nichts von seiner Vornehmheit genommen hat.
»Da«, sagt der Blonde, »da muß ich hin. Noch zehn Ta-ge habe ich zu fahren, wenn’s gut geht.« Sein Finger mit dem flachen und immer noch glänzenden, blauschim-mernden Nagel füllt die ganze Bucht aus zwischen Odessa und der Krim. Der Rand des Nagels liegt bei Nikolajew.
»Nikolajew?« fragt Andreas.
»Nein«, der Blonde zuckt zusammen und sein Nagel rutscht tiefer, und Andreas merkt, daß er auf die Karte ge-starrt, aber nichts gesehen und an etwas anderes gedacht hat. »Nein«, sagt der Blonde. »Otschakow. Bei der Flak bin ich, vorher waren wir in Anapa, im Kuban, weißt du, aber da sind wir ja weg. Und nun Otschakow.«
Plötzlich blicken sich die beiden an. Zum ersten Male seit den achtundvierzig Stunden, die sie zusammengehockt haben, blicken sie sich an. Sie haben lange Karten miteinander gespielt, getrunken und gegessen und aneinanderge-lehnt geschlafen, aber jetzt erst blicken sie sich an. Es liegt eine seltsam ekelhafte, fast weißlichgraue, schleimige Haut über den Augen des Blonden. Es ist Andreas, als durchsteche er mit seinem Blick den schwachen ersten Schorf, der sich über einer eitrigen Wunde geschlossen hat. Jetzt begreift er plötzlich das abstoßende Fluidum, das von diesem Manne ausgeht, der einst gewiß schön war, als seine Augen noch klar gewesen sind, blond und schlank mit vornehmen Händen. Das ist es also, denkt Andreas.
»Ja«, sagt der Blonde still, »so ist es«, als habe er begriffen, was Andreas gedacht hat. Er spricht still weiter, unheimlich still. »So ist es. Er hat mich verführt, ein Wachtmeister. Ich bin vollkommen verdorben und verseucht, 56
und an nichts in der Welt habe ich mehr Freude, auch nicht am Fressen, das scheint nur so, ich fresse automatisch, ich trinke automatisch, ich schlafe automatisch. Ich kann doch nichts dafür, sie haben mich ja verdorben«, er schreit plötzlich auf, dann wird er wieder still. »Sechs Wochen lang lagen wir in einer Stellung oben am Ssiwasch … da war weit und breit kein Haus … nicht einmal eine umgestürzte Mauer. Sümpfe, Wasser … Weidenge-büsch … und die Russen flogen darüber, wenn sie die Ma-schinen angreifen wollten, die von Odessa nach der Krim flogen. Sechs Wochen lagen wir da. Man kann es nicht beschreiben. Wir waren nur ein Geschütz mit sechs Mann und der Wachtmeister. Keine Sau in der Nähe. Die Verpflegung brachten sie uns mit dem Auto an den Rand des Sumpfes, und da mußten wir sie holen und über unsere Knüppelstege in die Stellung tragen, immer gleich für vierzehn Tage, und eine Masse zu fressen. Das Fressen war unsere einzige Abwechslung, und Fische fangen und Mücken jagen … die irrsinnigen Massen von Mücken, ich weiß nicht, wieso wir nicht verrückt geworden sind. Der Wachtmeister war wie ein Tier. Er spuckte nur so den ganzen Tag mit Schweinereien um sich, die ersten Tage, und er fraß gräßlich. Fleisch und Fett, kaum Brot. Ja«, ein furchtbarer Seufzer entwindet sich seiner Brust, »ein Mensch, der kein Brot ißt, der ist verloren, sag ich dir. Ja
…« Schreckliches Schweigen, während die Sonne über Przemysl golden und warm und schön steht.
»Mein Gott«, stöhnt er, »er hat uns verführt, was ist da noch zu sagen? Wir waren alle so … bis auf einen. Der wollte nicht. Das war ein Alter, der war verheiratet und hatte Kinder; abends hatte er uns oft weinend die Bilder von seinen Kindern gezeigt … vorher. Der wollte nicht, er 57
hat um sich geschlagen, hat gedroht … er war stärker als wir alle fünf zusammen; und eines Nachts, als er allein auf Posten stand, hat ihn der Wachtmeister erschossen. Er ist rausgeschlichen und hat ihn niedergeknallt – von hinten.
Mit seiner eigenen Pistole; dann hat er uns rausgeschmis-sen aus den Betten, und wir mußten ihm helfen, die Leiche in den Sumpf zu schmeißen. Leichen sind schwer …
Mensch, Menschenleichen sind entsetzlich schwer. Leichen sind schwerer als die ganze Welt; wir sechs
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