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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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Begegnung
    W ie ein Schleier umhüllte die Dämmerung das große Zeremonienhaus. Die mächtigen Zedern, die das aus massiven Holzplanken errichtete Gebäude umgaben, waren nur noch als dunkle Schatten zu erkennen, und die ersten Sterne zeigten sich am mondlosen Himmel. Stille legte sich über die Wildnis und auch über das nahe am Highway gelegene Zeremonienhaus der Elk Creek First Nation.
    Im Inneren des Hauses hingegen herrschte große Anspannung. In der Mitte des Zeremonienplatzes, der das Zentrum des Gebäudes bildete, brannten in einigem Abstand zueinander zwei große Feuer unter runden Öffnungen im Dach, und auf den Sitzbänken aus breiten Zedernplanken, die den oval geformten Platz wie eine Tribüne umgaben, bereiteten sich die Mitglieder des Stammes auf eine wichtige Zeremonie vor.
    Chad Blue Knife betrat den Zeremonienplatz durch einen der vier engen Gänge, die die Tribüne auf jeder Seite durchschnitten. Jeder dieser Gänge war einer Himmelsrichtung zugeordnet und mit einem aus Zedernholz geschnitzten sechzig Zentimeter großen, runden Tiersymbol versehen.
    Chad ließ seine Finger sachte über den sorgfältig geschnitzten Raben gleiten, der den Gang schmückte, durch den er den Zeremonienplatz betrat. Er hatte für den heutigen Abend alle beruflichen Verpflichtungen beiseitegeschoben, um seine Familie bei dieser Zeremonie zu unterstützen. Es war Heather gewesen, seine Großtante, die ihn gebeten hatte, am heutigen Abend anwesend zu sein. Heather zählte zu den angesehensten Ältesten des Stammes, und ihre Bitte durfte man nicht ablehnen.
    Chad Blue Knife strich sich eine lange schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und schüttelte unmerklich den Kopf, als er sich daran erinnerte, wie viel Zeit verstrichen war, seit er zum letzten Mal einer Zeremonie beigewohnt hatte. In den Tagen seiner Jugend hatte er an vielen Zeremonien teilgenommen, aber seit seinem Studium hatte er weniger Zeit im Kreise seiner Familie verbracht, als ihm lieb gewesen war. Jetzt, mit Anfang dreißig, war er endlich in der Lage, wieder ganz in der Gemeinschaft seines Stammes zu leben. Und so hatte er an diesem Abend nicht gezögert, dem Aufruf seiner Großtante zu folgen und an der geplanten Zeremonie teilzunehmen. Worum es dabei ging, lag für ihn und die anderen Stammesmitglieder noch im Verborgenen, aber auch er spürte, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein musste.
    Chad beobachtete gespannt, wie sich die Ältesten in der Mitte des Zeremonienplatzes versammelten. Sofort breitete sich respektvolle Stille im Inneren des Hauses aus. Jeder wartete darauf, dass einer der Ältesten das Wort ergriff, und fragte sich im Stillen nach dem Grund für die Zeremonie. Eigentlich fanden Zeremonien dieser Art während der Wintermonate statt. Heute hingegen war Sommersonnenwende.
    Chad richtete seinen Blick auf Joseph Rock Horse, einen Mann, den er schon seit seiner Kindheit kannte. Joseph war Anfang sechzig. Sein schulterlanges Haar war schon silbergrau, aber er war noch immer eine stattliche Erscheinung. An diesem Abend hatte er sich in eine schwarz-rote Decke gehüllt, die mit verschiedenen Tiermotiven verziert war. Er gehörte zu den Ältesten, und er würde an diesem Abend die Zeremonie leiten.
    Endlich wandte Joseph Rock Horse sich in der wohlklingenden Sprache des Stammes an die versammelte Menge. »Wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um die Geistwesen um Rat zu bitten. Unser Volk steht vor einer schweren Aufgabe. Die Welt, in der unsere Kinder heute aufwachsen müssen, ist nicht mehr die Welt, in der unsere Ahnen Tausende von Jahren gelebt haben. Das Gleichgewicht ist gestört. Unserem Volk wurde alles genommen und die indianische Lebensweise beinahe vernichtet. Eisenbahn, Städte, moderne Wissenschaft – sie nennen es Fortschritt . Uns hat dieser Fortschritt Tränen und Tod gebracht. Nun wappnen sich die dunklen Mächte der Gegenwart erneut für einen Angriff. Zerstörung und Verwüstung drohen unserer Welt. Unsere Kinder werden weinen, sie werden aufschreien aus Verzweiflung. Ihnen wird nichts bleiben. Das müssen wir verhindern.«
    Im Zeremonienhaus herrschte Stille. Allen stockte der Atem. Die Ältesten nahmen ihre Aufgabe sehr ernst, und ihre Worte zweifelte man nicht an, aber … So etwas hatte bisher noch niemand aus ihrem Munde gehört!
    Joseph Rock Horse blickte finster in die Runde. »Es ist nicht nur die Natur, die von den dunklen Mächten zerstört zu werden droht. Wir selbst sind die Opfer. Seit Jahren verschwinden

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