Der Zug war pünktlich
der Elbe.« Er seufzt. »Ich werde dir erzählen, wen alles ich betrogen ha-be!«
»Ach«, sagt sie, »nein. Erzähl mir etwas Schönes … und mehr!« Sie lacht. »Wen wirst du schon betrogen haben?«
»Ich will die Wahrheit erzählen. Alles, was ich gestoh-len und wen ich betrogen habe …« Er schenkt wieder ein, stößt mit ihr an, und in dieser Sekunde, wo sie sich über dem Rand der Gläser anblicken, lächelnd, nimmt er ihr schönes Gesicht ganz in sich hinein. Ich darf es nicht verlieren, denkt er, nie mehr verlieren, sie gehört mir.
Ich liebe ihn, denkt sie, ich liebe ihn …
»Mein Vater«, sagt er leise, »mein Vater ist an den Folgen einer schweren Verwundung gestorben, die er noch drei Jahre hinter dem Krieg hat herschleppen müssen. Ich war ein Jahr alt, als er starb. Und meine Mutter folgte ihm bald. Mehr weiß ich nicht davon. Man hat mir das alles 120
erzählt, eines Tages, als man mir sagen mußte, daß die Frau, die ich immer für meine Mutter gehalten hatte, gar nicht meine Mutter war. Ich wuchs bei einer Tante, bei einer Schwester meiner Mutter, die einen Rechtsanwalt geheiratet hatte, auf. Er verdiente viel Geld, aber wir waren immer schrecklich arm. Er trank. Für mich war es so selbstverständlich, daß ein Mann morgens immer mit schwerem Schädel und mißmutig am Frühstückstisch saß, daß ich später, als ich andere Männer, Väter meiner Freunde kennenlernte, dachte, es wären gar keine Männer.
Männer, die nicht jeden Abend besoffen waren und morgens beim Kaffee hysterische Szenen machten, das war für mich ein Begriff, den es nicht gab. ›Ein Ding, was nichts ist‹, wie Hoynhyms bei Swift sagen. Ich dachte, wir sind geboren, um uns anbrüllen zu lassen. Die Frauen sind geboren, um sich anbrüllen zu lassen, mit den Gerichtsvoll-ziehern zu kämpfen, mit Händlern fürchterliche Streitfälle auszufechten und irgendwo einen neuen Kredit aufzutun.
Meine Tante war ein Genie. Sie war ein Genie im Kredi-tauftun. Wenn alles vollständig verloren schien, wurde sie ganz still, nahm ein Pervitin und sauste ab, und wenn sie wiederkam, hatte sie Geld. Und ich hielt sie für meine Mutter; und dieses dicke, aufgeschwemmte Ungeheuer mit aufgeplatzten Äderchen an der Backe hielt ich für meinen biederen Erzeuger. Er hatte eine gelbliche Augenfarbe und den widerlichen Geruch von Bier im Hals, er stank wie alte Hefe. Ich hielt ihn für meinen Vater. Wir bewohnten eine prachtvolle Villa, hatten ein Mädchen und alles, und meine Tante hatte oft keinen Groschen, um eine Teilstrek-ke mit der Straßenbahn zu fahren. Und mein Onkel war ein berühmter Rechtsanwalt. Ist das nicht langweilig?«
fragt er plötzlich, als er aufsteht, um die Gläser neu zu fül-121
len. »Nein«, flüstert sie, »nein, erzähl weiter.« Es sind nur zwei Sekunden, die er braucht, um vorsichtig die schlan-ken Gläser neu zu füllen, die auf diesem Rauchtisch stehen, aber sie sieht seine Hände und das blasse schmale Gesicht und denkt, wie mag er ausgesehen haben, damals, als er fünf oder sechs Jahre alt war oder dreizehn, an diesem Frühstückstisch. Diesen fetten, versoffenen Burschen kann sie sich gut denken, der an der Marmelade herum-mäkelt und nur Wurst essen möchte. Wenn sie gesoffen haben, möchten sie nur Wurst essen. Und die Frau, vielleicht zart, und dieser blasse kleine Bursche dabei, ganz schüchtern, der vor Angst kaum zu essen wagt und nicht zu husten wagt, obwohl ihm der schwere Zigarrenrauch in der Kehle liegt, der husten möchte und es nicht wagt, weil das versoffene, fette Ungeheuer dann rasend wird, weil der berühmte Rechtsanwalt seine Nerven verliert, wenn er diesen Kinderhusten hört …
»Deine Tante«, sagt sie, »wie sah sie aus? Beschreib mir genau deine Tante!«
»Meine Tante war sehr klein und zart.«
»Sie glich deiner Mutter?«
»Ja, sie glich sehr meiner Mutter, den Bildern nach. Spä-
ter, als ich größer wurde und so manches wußte, hab ich immer gedacht, das muß doch furchtbar sein, wenn er …
wenn er sie umarmt, dieser große schwere Kerl mit seinem Atem und diesen geplatzten Äderchen auf den prallen Backen und auf der Nase, das sieht sie dann doch ganz, ganz nah, und diese großen, gelblichen, verschwommenen Augen und alles. Dieses Bild hat mich monatelang ver-folgt, wenn ich nur einmal daran dachte. Und ich dachte doch, es wäre mein Vater, und quälte mich nächtelang mit der Frage: Warum heiraten sie solche Männer. Und …«
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»Und auch sie hast du betrogen,
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