Der Zug war pünktlich
auf und gießt mit der anderen Kaffee ein …
»Soldaten«, sagt sie leise, »ja. Manche Soldaten hab ich geliebt … und ich hab gewußt, daß es gleichgültig war, wenn sie auch Deutsche waren, die ich doch eigentlich alle hassen mußte. Weißt du, wenn ich mich ihnen schenkte, fühlte ich mich ganz ausgeschaltet aus dem furchtbaren Spiel, an dem wir alle teilnehmen und an dem ich in einem besonderen Maße teilgenommen hatte. Das Spiel: andere in den Tod schicken, die man nicht kennt. Siehst du«, flü-
stert sie, »irgend so einer, ein Obergefreiter oder ein General, erzählt mir hier was, und ich berichte es weiter – eine Maschinerie wird in Bewegung gesetzt und irgendwo sterben Menschen, weil ich es weitererzählt habe, verstehst du?« Sie blickt ihn wie irr an. »Verstehst du? Oder du, du sagst irgendeinem auf dem Bahnhof: Fahr mit dem Zug, Kumpel, fahr mit dem statt mit dem – und gerade der Zug wird überfallen und dein Kumpel stirbt, weil du ihm gesagt hast: Fahr mit dem Zug. Deshalb war es so schön, sich ihnen einfach zu schenken, einfach hinzugeben, nichts tun als sich hingeben. Ich habe sie nichts gefragt für unser Mosaik und nichts gesagt, ich hab sie lieben müssen.
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Und es ist schrecklich, daß sie nachher immer traurig sind
…«
»Mosaik«, fragt Andreas heiser, »was ist das?«
»Die ganze Spionage ist ein Mosaik. Es wird alles zu-sammengetragen und numeriert, jedes kleinste Fetzchen, das wir erwischen, bis das Bild vollständig ist … langsam wird das ausgefüllt … und viele dieser Mosaike geben das ganze Bild … von euch … von eurem Krieg … eurer Armee …«
»Weißt du«, sagt sie und blickt ihn sehr ernst an, »das ist furchtbar, daß alles so sinnlos ist. Überall werden nur Unschuldige ermordet. Überall. Auch von uns. Irgendwie hab ich das immer gewußt …«, sie wendet den Blick von ihm ab, »weißt du, aber das ist erschreckend, daß ich es erst richtig begriffen habe, seitdem ich hier ins Zimmer trat und dich sah. Deinen Rücken, deinen Nacken, da in der goldenen Sonne.« Sie deutet zum Fenster, wo die beiden Sessel stehen.
»Ich weiß das. Als ich hierhergeschickt wurde, als die Alte zu mir sagte: In der Bar wartet jemand auf dich. Nicht viel rauszuholen, glaub ich, aber er zahlt wenigstens gut.
Als sie das sagte, hab ich gedacht: Du wirst schon etwas aus ihm rausholen. Oder es ist einer, den du lieben kannst.
Keiner von den Opfern, es gibt ja nur Opfer und Henker.
Und als ich dich sah, da am Fenster stehen, deinen Rük-ken, deinen Nacken, deine gebeugte junge Gestalt, als wä-
rest du viele tausend Jahre alt, da erst fiel mir ein, daß auch wir nur die Unschuldigen morden … nur Unschuldige …«
Furchtbar lautlos ist dieses Weinen. Andreas steht auf, streicht ihr im Vorbeigehen über den Nacken und geht zum Klavier. Sie blickt ihm erstaunt nach. Ihre Tränen 116
sind sofort versiegt, sie sieht ihm zu, wie er da sitzt, auf dem Klavierstuhl, und auf die Tasten starrt, seine Hände angstvoll gespreizt, und in seinem Gesicht steht eine schreckliche Falte quer über der Stirn, eine schmerzliche Falte.
Er hat mich vergessen, denkt sie, er hat mich vergessen, das ist furchtbar, daß sie uns immer vergessen in den Au-genblicken, wo sie ganz sie selbst sind. Er denkt nicht mehr an mich, er wird nie mehr an mich denken. Morgen früh wird er sterben in Stryj … und er wird keinen Gedanken mehr an mich verschwenden.
Er ist der erste und einzige, den ich liebe. Der erste. Er ist jetzt ganz allein. Er ist wahnsinnig traurig und allein.
Diese Falte quer über seiner Stirn, die schneidet ihn entzwei, sein Gesicht ist blaß vor Schreck, und er hat die Hände gespreizt, als müsse er ein furchtbares Tier anfas-sen … Wenn er doch spielen könnte, wenn er doch spielen könnte, wäre er wieder bei mir. Der erste Ton wird ihn mir wiedergeben. Mir, mir, mir gehört er … er ist mein Bru-der, ich bin zwei Tage älter als er. Wenn er doch spielen könnte. Es sitzt wie ein grausamer Krampf in ihm, spreizt seine Hände, macht ihn bleich wie den Tod und macht ihn so maßlos unglücklich. Nichts mehr ist da von alledem, was ich ihm hab schenken wollen bei meinem Spiel … bei meinem Erzählen, nichts mehr davon ist bei ihm. Alles weg, nur noch sein Schmerz ist bei ihm.
Und wirklich, als er plötzlich mit einer wilden Wut im Gesicht auf die Tasten schlägt, da blickt er auf, und sein erster Blick gilt ihr. Er lächelt sie an, und sie hat noch nie ein so glückliches Gesicht
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