Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
die Traditionen in Frage gestellt und die Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung durcheinandergewirbelt. Doch die spezifischen deutschen Stärken - ein hoher Standard in Wissenschaft, Bildung und Ausbildung, eine leistungsfähige Wirtschaft und eine qualifizierte Bürokratie - waren durch die Katastrophe des Krieges und die Zerstörung der Infrastruktur erstaunlich wenig beeinträchtigt worden. Die Angehörigen der Führungsschichten und der Bürokratie waren zu 90 Prozent willige Helfer der Nazidiktatur gewesen; das wirkte sich aber keineswegs auf ihre Effizienz beim Wiederaufbau aus.
Ganz und gar ungebrochen und durch die Katastrophe und die Chance zum Wiederaufbau sogar noch angestachelt waren der traditionelle deutsche Fleiß und der Hang zum Tüfteln und Verbessern.
Gerade die Flüchtlinge und Vertriebenen taten sich hier hervor. Sie waren in derselben Situation wie die Auswanderer des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, nämlich fremd und mittellos, und sie konnten nur mit besonderem Fleiß vorankommen. Und sie waren fleißig, so fleißig, dass sie den Alteingesessenen in der jungen Bundesrepublik bald kräftig Beine machten.
Damit das deutsche Wirtschaftswunder möglich wurde, mussten aber noch weitere Umstände hinzukommen:
• der Ost-West-Gegensatz, der aus dem besiegten Land plötzlich einen begehrten Partner machte, den es zu fördern und zu stützen galt
• die stürmische Erholung der westlichen Welt nach 20 Jahren Krieg und Weltwirtschaftskrise
• die schnelle Befreiung der westdeutschen Wirtschaft von zahlreichen administrativen Fesseln in den Jahren 1948 bis 1951, Ludwig Erhards großes und bleibendes Verdienst.
Die »soziale Marktwirtschaft« war das große Versprechen, das letztlich das ganze Volk hinter dem Wiederaufbau vereinte: Alle sollten einen fairen Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten bekommen, alle sollten vor Hunger, Kälte und drückender Armut geschützt sein, wer arbeiten wollte, sollte auch Arbeit finden. Dieses Versprechen wurde eingelöst, und wie!
• Von 1950 bis 1960 wuchs die westdeutsche Wirtschaft mit einer Jahresrate von acht Prozent.
• Die Arbeitslosigkeit sank von 11,0 Prozent im Jahre 1950 auf 1,3 Prozent im Jahre 1960.
• Das Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung stieg in zehn Jahren um fast 70 Prozent. 1955 erwirtschaftete Deutschland ein ebenso hohes Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt wie Frankreich, bereits 1952 war das Pro-Kopf-Sozialprodukt der Siegermacht Großbritannien übertroffen worden.
Das Staatswesen und die Gesellschaftsordnung erreichten in der Bundesrepublik um 1960 einen Legitimationsgrad und eine Akzeptanz wie niemals in den 150 Jahren zuvor und niemals danach. Die SPD hatte im Godesberger Programm 1959 die Konsequenzen daraus gezogen und Frieden mit dem zur »sozialen Marktwirtschaft« gezähmten Kapitalismus gemacht. Doch die Idylle währte nur kurz:
• 1966/67 weckte die erste deutsche Nachkriegsrezession Zweifel, ob Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung quasi permanent zu sichern seien. Diese waren aber bald wieder zerstreut dank der gloriosen Wachstumsraten der Jahre 1968 bis 1971.
• 1968 begann ein Teil der Nachkriegsgeneration gegen ein Gesellschaftsmodell zu protestieren, wonach die wesentliche Legitimationsgrundlage der Gesellschaft und ihre hauptsächliche Zielsetzung in der Erhöhung der Güterproduktion zu bestehen schien.
• 1972 wies der erste Bericht des Club of Rome unter dem Titel »Die Grenzen des Wachstums« auf die Endlichkeit der Ressourcen dieser Erde hin. Das war der Auslöser für die Umweltbewegung. Von diesem Bericht führt ein direkter Weg zur heutigen Diskussion über die Klimakatastrophe.
• 1973 löste die erste Ölkrise die zweite große Nachkriegsrezession in Deutschland aus. Der Vollbeschäftigungsgrad der sechziger Jahre wurde seither nicht mehr erreicht.
• 1979 folgte nach dem Umsturz im Iran die zweite Ölkrise, die zur dritten Nachkriegsrezession und zum Sturz der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt führte.
• In den achtziger Jahren gelang die Stabilisierung der Weltwirtschaft; eine weltweit veränderte Geldpolitik brachte die Inflation nachhaltig in tolerable Bereiche. Die deutsche Wirtschaft wuchs wieder, wenn auch wesentlich langsamer als in den sechziger und siebziger Jahren. Die Arbeitslosigkeit sank, blieb aber grundsätzlich höher als zuvor.
• 1989 bis 1991 veränderten der Zusammenbruch des Ostblocks und die Auflösung der Sowjetunion die politische
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