DGB 06 - Gefallene Engel
Löwen auf dem
Turm der Festung. So sonderbar das auch war, kam es ihm doch so vor, als wirke
Lion El'Jonson viel einsamer und isolierter, wenn er von Menschen umgeben war.
»Nein, er nicht«, räumte Luther
ein. »Mein Bruder ist eine Klasse für sich, und so ist das auch schon immer gewesen.
Es ist nicht so, dass er humorlos ist. Das Gegenteil ist der Fall. Du darfst
nicht vergessen, dass er nicht nur ein großer Krieger, sondern auch ein Genie ist.
Sein Verstand ist ein sehr komplexes Instrument, und sein Humor besitzt die
gleiche Komplexität. Wenn er einen Scherz macht, versteht niemand, was er will.
Er neigt zu viel zu intellektuellen Witzen, die über unseren simplen Verstand
hinausgehen.«
Einen Moment lang huschte ein
trauriger Ausdruck über Luthers Gesicht, während er den Löwen betrachtete.
Zahariel bekam sofort das Gefühl, unwissentlich in einer privaten Tragödie
herum-gestochert zu haben. Zugleich machte es ihm deutlich, wie eng der Löwe
und Luther miteinander verbunden waren — eine Verbindung, wie sie zwischen ihm
selbst und Nemiel existierte.
Luther war ein bemerkenswerter
Mann, daran bestand kein Zweifel, was womöglich aber gar nicht jedem so bewusst
war. Er war auf vielen Gebieten außergewöhnlich talentiert, nicht nur als
Führer, Krieger und Jäger. Von Lion El'Jonson abgesehen hatte niemand in der
Geschichte Calibans so viele große Bestien getötet.
In jeder anderen Ära hätte man
ihn wohl als größten Helden seines Zeitalters bezeichnet. Unermüdlich engagierte
er sich für die Menschen auf Caliban, Humor und Bedächtigkeit in Krisen-situationen
waren seine Qualitäten, und seine Taten sprachen für seinen großen Mut. Es war
Luthers Schicksal, dass er in der gleichen Zeit geboren wurde wie der Mann, an
dessen Leistungen man jeden anderen maß und an den niemand heranreichen konnte.
Von dem Tag an, da er im Wald
auf Jonson getroffen war und beschlossen hatte, ihn mit in die Zivilisation zu
nehmen, hatte Luther seiner eigenen Legende den Todesstoß versetzt, denn von da
an war er dazu verdammt gewesen, im Schatten des Löwen zu stehen.
Zahariel fand, dass Luther in
ein noch besseres Licht gerückt wurde, da seine Zuneigung zum Löwen ehrlich und
ungezwungen wirkte. Manch anderer hätte sich an seiner Stelle versucht gefühlt,
dem Neid zu erliegen und Jonsons Leistungen herabzuwürdigen.
Aber nicht Luther. Er war nicht
von diesem Schlag.
Mit wahrer brüderlicher Hingabe
richtete Luther seine gesamte Energie darauf, alles in seiner Macht Stehende zu
tun, um die Pläne des Löwen zum Erfolg zu führen. Damit trug Luther mindestens
die gleiche Verantwortung für den Kreuzzug gegen die großen Bestien wie Jonson.
Doch als sich der Feldzug nun seinem Ende zuneigte, war es einzig der Löwe, der
das gesamte Lob kassierte, nicht Luther.
Zahariel konnte dem Mann
dennoch keine Verbitterung anmerken, denn offenbar hatte Luther akzeptiert, dass
er lediglich als rechte Hand von Lion El'Jonson in die Geschichte eingehen
würde.
»Mein Bruder ist ein begabter
Mann«, erklärte Luther, ohne den Blick vom Löwen abzuwenden. »Ich vermute, einen
Mann wie ihn hat es noch nie gegeben. Ganz sicher kann niemand, der in unserer
Zeit lebt, es mit seinen Leistungen aufnehmen. Wusstest du, dass er ein
exzellenter Imitator ist?«
»Der Löwe? Nein, davon ist mir
nichts bekannt.«
»Er kann die Laute eines jeden
Tiers auf Caliban nachahmen, vom Jagdschrei eines Raptors bis hin zum
Paarungsruf eines Serynx. Und er besitzt eine wundervolle Singstimme. Er kennt
alle alten Lieder und Volksweisen von Caliban. Wenn du ihn hörst, wie er Wälder
meiner Väter singt, dann rührt dich das zu Tränen, das kann ich dir
versprechen. Soweit ich weiß, hat er noch nie versucht, eigene Musikstücke zu
schreiben, aber du kannst dir sicher sein, wenn er es täte, wäre das Resultat
überwältigend. Mein Bruder ist in allem exzellent, ganz gleich, woran er sich
versucht. Das ist seine Tragödie.«
»Seine Tragödie?«, fragte
Zahariel irritiert.
»Wie kann es eine Tragödie
sein, wenn man in allem gut ist?«
»Vielleicht ist Tragödie ein zu
drastisches Wort«, meinte Luther schulterzuckend, als er sich wieder zu ihm herumdrehte.
»Aber du musst bedenken, mein Bruder ist einzigartig. Er spricht nie über seine
Herkunft, weil sie für ihn ebenso rätselhaft ist wie für jeden anderen. Man
könnte fast meinen, er sei ein vom Himmel gefallener Gott oder Halbgott, nicht
ein Mann, der wie jeder andere zur Welt gekommen
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