Gefangen in Deutschland
V ORWORT
F uad Hemidi ist der Nachbar meiner Freundin Andrea, ein hochgewachsener etwa vierzigjähriger Syrer mit dunklen mandelförmigen Augen, der schon lange in Deutschland lebt. Er hat hier Informatik studiert und direkt nach dem Examen eine gut dotierte Stelle in einer Softwarefirma bekommen, in der er schon als Student gejobbt hat. Sein Kleidungsstil ist elegant, er fährt einen dunkelblauen 2er-BMW und seine Deutschkenntnisse sind exzellent. Ich bin ihm schon ein paarmal flüchtig begegnet, denn ich besuche Andrea regelmäßig.
»Hat er denn gar keine Frau?«, will ich eines Abends von ihr wissen, als ich noch auf ein Glas Wein bei ihr vorbeischaue und Fuad auf dem Weg zu ihrer Wohnung getroffen habe. »Einem so netten, gut aussehenden Typen müssten die Mädchen doch in Scharen hinterherlaufen!«
»Tun sie auch!«, kichert Andrea. »Vor allem die späten Mädchen – frag mal die alte Frau Schulze! Sie himmelt ihn geradezu an. Er hilft ihr aber auch immer wieder – Schnee schippen, Rasen mähen und so weiter. Ich glaube, er bringt ihr sogar manchmal Blumen mit. Nein, im Ernst, Fuad hat, soweit ich weiß, keine Frau. Wahrscheinlich ist er einfach gern allein. Er arbeitet ja auch extrem viel. Und wenn er nach Hause kommt, liest er stundenlang. Ich kann das von hier aus sehen, schließlich hat er keine Vorhänge vor den Fenstern.«
Ich werfe einen Blick aus Andreas weit geöffnetem Küchenfenster. Die Neubauanlage, in der sie wohnt, ist U-förmig angelegt, mit einem schönen Innenhof, auf den breite Fensterfronten hinausgehen, sodass die Bewohner vor allem der beiden höher gelegenen Stockwerke einen guten Einblick in die Apartments ihrer Nachbarn haben – einmal mehr, wenn diese keine Vorhänge besitzen. So wie Fuad Hemidi, der eine der kleineren Erdgeschosswohnungen mit Balkon angemietet hat und gerade mit einem Buch in der Hand in mein Blickfeld getreten ist.
Ein paar Wochen denke ich nicht mehr über den Nachbarn von Andrea nach, weil ich zu beschäftigt bin, sie zu besuchen. Irgendwann packt mich dann aber doch die Sehnsucht nach meiner Freundin und ich greife zum Telefonhörer. Nachdem wir die neuesten Neuigkeiten ausgetauscht haben, sagt Andrea beiläufig:
»Ach, übrigens: Unser smarter Nachbar hat neuerdings seine Fenster verhängt. Wahrscheinlich hat er jetzt doch eine Freundin und will nicht mehr, dass man ihm bei allem zugucken kann.«
»Wie – euer Nachbar hat seine Fenster verhängt? Welcher Nachbar denn überhaupt?«, tue ich begriffsstutzig. In Wirklichkeit schwant mir natürlich, um wen es sich handelt.
»Na, Fuad natürlich! Der Syrer, du weißt doch! Die komplette Glasfront ist dicht. Mit einem dunklen Vorhang verhängt. Komisch, oder? Wo er sich doch all die Monate nichts daraus zu machen schien, dass ihn die ganze Nachbarschaft beobachten konnte!«
»Nein, das ist nicht komisch, nicht wirklich«, erwidere ich langsam und verspreche, sie am nächsten Tag endlich wieder einmal zu besuchen.
Gesagt, getan. Weil wir uns ewig nicht gesehen haben, gibt es viel zu erzählen, sodass Andrea und ich das Thema Fuad und seine Vorhänge völlig vergessen. Ich bin schon halb wieder auf dem Sprung nach Hause, als wir plötzlich Kindergeschrei im Hof hören. Dies ist insofern höchst ungewöhnlich, als in dem Wohnkomplex kein einziges Kind wohnt. Neugierig treten wir also ans Fenster.
»Das gibt’s doch nicht!«, entfährt es Andrea.
Auch ich bin verwirrt beim Anblick der tief verschleierten Frau und der vier kleinen Kinder im Alter von eins bis sechs Jahren, die – bis auf das Kleinste auf ihrem Arm – munter um sie herumtollten. Denn dass es sich um Fuads Frau und Fuads Kinder handeln muss, daran besteht kein Zweifel: Zwei große Koffer in beiden Händen, scheucht Andreas Nachbar den kleinen Trupp mit brüsken Worten rasch ins Haus hinein. Die Kinder spuren auch sofort, nur die Frau lässt ihre Blicke noch einmal verstohlen durch den Innenhof schweifen, bevor sie der Aufforderung ihres Mannes Folge leistet. Als sie ihr Gesicht in Richtung von Andreas Küchenfenster hebt, sehe ich, wie jung sie ist – noch keine zwanzig, vermute ich. Und schon vier Kinder, von denen das Älteste sicher bald in die Schule gehen wird!
Doch so weit kommt es nicht, jedenfalls nicht in unserem Ort. Die junge Mutter und ihre Kinder bleiben drei Monate in dem kleinen Apartment in Andreas Wohnanlage. Insgesamt bekommt meine Freundin die Frau in dem Vierteljahr ganze zwei Mal zu Gesicht: ein Mal mit Fuad
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