Gesang des Drachen
Prolog
Schuld und Sühne
Die Nacht rauschte an Laura vorbei. Der Titanendactyle flog hoch am Himmel Richtung Osten, nach Cuan Bé, dem »kleinen Hafen«, der Geheimbasis des Widerstands. Einige Iolair begleiteten das Riesenwesen auf ihren Flugtieren; sie orientierten sich an dem leisen Rauschen seiner niemals schlagenden Schwingen und den wenigen Lichtern, die auf der Plattform entzündet worden waren.
Die Nacht schien oben noch dunkler zu sein als unten auf dem Boden. Dort fanden sich leuchtende Pflanzen und Tiere, manchmal auch funkelnde Gewässer. Doch in den Lüften herrschte Lichtlosigkeit. Der Priesterkönig Johannes hatte den Mond und die Sterne verboten. Höchstens Wolken hätten ein paar Lichtpunkte in der Ferne sein können, aber dieser Himmel war absolut undurchdringlich in seiner Klarheit.
Dem Titanendactylen machte das nichts aus, und seinem geheimnisvollen Navigator, den außer Josce bislang nie jemand zu Gesicht bekommen hatte, erst recht nicht. Der Navigator war blind, er orientierte sich auf andere Weise, und er lenkte das Riesenwesen sicher durch alle Gefahren.
So dunkel wie in dieser Nacht war es auch in Lauras Herzen. Sobald sie sicher gewesen war, dass Milt schlief, hatte sie sich davongeschlichen, an den Rand der Plattform gesetzt; übermüdet, aber unfähig, die Augen zu schließen, starrte sie in das finstere Nichts.
Jetzt war für Laura Zeit zum Nachdenken, zum ersten Mal seit den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen. Im Lager vor Morgenröte hatte sie alle Gedanken verdrängt, sich ganz und gar auf die Suche nach dem Verschollenen Palast konzentriert. Es hatte sie abgelenkt vom Warten auf die Rückkehr von Arun und Nidi.
Nachdem diese eingetroffen waren, hatten schnelle Entscheidungen gefällt werden müssen, da war kein Raum geblieben für etwas anderes.
Bis zu dem Augenblick, da der Aufbruch bevorstand und es für Laura nichts mehr zu tun gab. Denn außer den Sachen, die sie am Leib trug, hatte sie nichts zu packen; Vorräte, Decken, Waffen, alles befand sich nach Bedarf auf dem Titanendactylen. Lediglich den Dolch Girne führte sie mit sich, bewahrte ihn auf im Innenfutter ihrer Jacke. Anfänglich hatte sie alle paar Minuten danach getastet, ob er auch wirklich noch da war. Inzwischen hatte sie den Ausdruck ihrer Besorgnis auf mindestens eine halbe Stunde ausgedehnt.
Vor dem Aufbruch war sie wegen einer anderen Sache verwirrt und sorgenvoll gewesen. Hatte eine Konfrontation gescheut, hinausgezögert, bis ... zu dem Moment, da die Versammlung sich auflöste.
Also: Es war Zeit.
Sie sah Arun, der nach ihr das Besprechungszelt verlassen hatte, und ging auf ihn zu. »Wir müssen zusammen gehen«, sagte sie ohne weitere Erklärung, und der Korsar nickte.
»Wir gehen mit«, schlug Finn vor, und Milt stimmte zu.
Aber Laura schüttelte den Kopf. »Nur ich und Arun. Nidi, Jack – auch ihr beide nicht.«
Die beiden schienen ihr nicht böse darum. Alle wussten, wovon sie sprach. Betreten wichen sie ihrem Blick aus. Sie konnte ebenfalls niemandem mehr in die Augen blicken.
Laura hatte selbst noch in der Erinnerung das Gefühl, dass dies ihr bisher schwerster Gang gewesen war. Und sie hatte spüren können, dass auch Arun damit kämpfte.
Die Tür zu Lucas Hütte stand offen, und er erwartete sie bereits. Er hatte sich seit der Rückkehr der Cyria Rani nicht blicken lassen.
Der Junge war sehr blass, aber er wirkte gefasst.
»Kommt rein!«, forderte er Laura und Arun auf. »Ich bin jetzt so weit.«
»Andernfalls könnten wir ...«, setzte der Korsar an.
Luca schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich hatte genug Zeit für mich. Jetzt will ich es hören, Arun. Wie sind meine Eltern gestorben? Und bitte – beschönige nichts, ich will die Wahrheit hören, egal wie bitter sie sein mag.«
Laura fühlte sich so elend wie nie zuvor. Sie streckte die Hand aus, wagte aber nicht, den Jungen zu berühren. »Ach Luca ...«, flüsterte sie brüchig.
»Ist schon okay, Laura«, sagte er ruhig. »Ich hab's doch die ganze Zeit gewusst. Wir alle wussten, dass es keine Hoffnung mehr gab. Ich hatte Zeit, mich damit abzufinden.«
Arun zog eine unglückliche Miene. »Luca, du solltest deine Eltern so in Erinnerung behalten, wie du sie kanntest.«
»Dafür habe ich zu viel durchgemacht«, antwortete der Junge. »All die Kämpfe und Verluste, der Schattenlord und Sandra ... nein. Ich will die Wahrheit wissen und mich nicht bis an mein Lebensende mit der schönen Lüge trösten, dass meine
Weitere Kostenlose Bücher