Diaspora
der Geist entwickelt hatte.
Das angehäufte Wissen des Konzeptors über seine Arbeit lag in Form einer Sammlung von kommentierten Diagrammen der Entwicklung des Konishi-Mentalkeims vor. Die Diagramme des höchsten Levels waren komplexe mehrdimensionale Strukturen, die den eigentlichen Keim an Ausmaß weit übertrafen. Doch es gab noch ein einfacheres Diagramm, das von den Konishi-Bürgern dazu benutzt worden war, die Fortschritte des Konzeptors im Verlauf der Jahrhunderte abzuschätzen. Es stellte die Milliarden Felder als Längengrade dar und die vierundsechzig möglichen Befehle als Meridiane. Jeder individuelle Keim ließ sich als Weg denken, der im Zickzack vom oberen bis zum unteren Rand der Darstellung verlief, wobei für jeden Koordinatenpunkt eine bestimmte Anweisung stand.
An den Stellen, von denen bekannt war, daß nur ein einziger Befehl eine erfolgreiche Psychogenese veranlassen konnte, führten die Wege zu einer einsamen Insel oder einer schmalen Landenge zusammen, die sich ockergelb gegen ozeanblau abzeichnete. Diese Infrastrukturfelder ergaben die grundlegende mentale Architektur, die allen Bürgern gemeinsam war und die sowohl das allgemeine Muster als auch die kleineren Details lebenswichtiger Subsysteme gestaltete.
Ansonsten dokumentierte das Diagramm die Spannweite der Möglichkeiten: als kompakte Landmasse oder verstreute Archipele. Eigenschaftsfelder entsprachen einer Auswahl von Anweisungen, deren Auswirkungen auf die Detailstruktur des Geistes bekannt waren. Die Variationen reichten von polaren Extremen des angeborenen Temperaments oder der Ästhetik bis zu winzigsten Unterschieden der neuralen Architektur, die unauffälliger als die Linien auf der Handfläche eines Körperlichen waren. Sie wurden in Grüntönen dargestellt, die ebenso kontrastreich oder kaum unterscheidbar wie die entsprechenden Eigenschaften waren.
Die übrigen Felder, auf denen noch keine Veränderungen der Keime getestet worden waren und sich keine Vorhersagen treffen ließen, waren als unbestimmt klassifiziert. Dort wurde die einzige getestete Anweisung, die einzige Landmarke, grau auf weiß repräsentiert: ein Berggipfel, der eine Wolkenschicht durchstieß, die alles verbarg, was sich östlich und westlich davon befand. Aus der Ferne waren keine weiteren Details zu erkennen; was immer sich unter den Wolken befand, ließ sich nur aus erster Hand erfahren.
Immer wenn der Konzeptor ein Waisenkind erschuf, setzte er alle günstigen mutierbaren Eigenschaftsfelder auf zulässige Anweisungen, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, da keine Rücksicht auf die Wünsche von Eltern genommen werden mußte. Dann selektierte er aus Tausenden unbestimmter Felder und behandelte sie mehr oder weniger auf dieselbe Weise. Er schüttelte Tausende von Quantenwürfeln, um einen zufälligen Kurs durch die terra incognita zu legen. Jedes Waisenkind war ein Entdecker, der losgeschickt wurde, unerforschte Gebiete zu erkunden.
Und jedes Waisenkind stellte selbst ein unerforschtes Gebiet dar.
Der Konzeptor verpflanzte das neue Waisenkind ins Gedächtnis der Plazenta – ein einzelner Informationsstrang inmitten eines Vakuums aus Nullen. Der Keim bedeutete sich selbst nichts, in seiner Einsamkeit hätte er genausogut die letzte Morse-Botschaft sein können, die zwischen fernen Sternen durch die Leere irrte. Doch die Plazenta war eine virtuelle Maschine, die die Anweisungen des Keims ausführen sollte, während Dutzende weiterer Softwareschichten bis zur Polis selbst hinunterführten, ein Gitter aus flimmernden molekularen Schaltern. Eine Sequenz aus Bits, ein Strang passiver Daten konnte überhaupt nichts bewirken oder verändern – doch in der Plazenta mit all den unwandelbaren Regeln auf den tieferen Niveaus herrschten alle Voraussetzungen, um die Programmierung des Keims zu erfüllen. Er fiel wie eine Lochkarte in einen Jacquard-Webstuhl; er war keine abstrakte Botschaft mehr, sondern wurde zu einem Teil der Maschine.
Wenn die Plazenta den Keim dechiffrierte, bewirkte sein erster Shaper, daß der umgebende Raum mit einem simplen Datenmuster ausgefüllt wurde, mit einer erstarrten numerischen Wellenspur, die die Leere wie Milliarden perfekt aneinandergereihter Sanddünen durchzog. Damit war jeder Punkt von seinen unmittelbaren Nachbarn am selben Wellenberg differenziert – obwohl die einzelnen Wellenberge und -täler wiederum völlig identisch waren. Das Gedächtnis der Plazenta war in Form eines Raums mit drei Dimensionen
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