Diaspora
Yatima betrachtete die Doppler-Verschiebung der Sterne rund um die Polis und verfolgte die erstarrten konzentrischen Wellen der Farbe, die am Himmel expandierten und konvergierten. Hie fragte sich, welche Geschichte sie erzählen würden, wenn sie endlich ihr Ziel eingeholt hätten. Sie hatten Fragen ohne Ende aufgeworfen, aber der Informationsfluß konnte nicht nur eine Einbahnstraße bleiben. Wenn die Transformer zu wissen verlangten: »Warum seid ihr uns gefolgt? Warum seid ihr einen so weiten Weg gekommen?« – wo sollte hie dann anfangen?
Yatima hatte Geschichten aus der Prä-Introdus-Ära gelesen, die auf nur einem Niveau erzählt und von der Fiktion bestimmt wurden, daß Individuen so unteilbar wie Quarks waren und planetare Zivilisationen in sich geschlossene Universen darstellten. Weder heine persönliche Geschichte noch die der Diaspora würde sich in diesen imaginären Rahmen einzwängen lassen. Die wirkliche Welt enthielt viel größere und kleinere Strukturen, viel einfachere und komplexere Strukturen als der winzige Ausschnitt, den intelligente Lebewesen und ihre Gesellschaften umfaßten, und es war eine erhebliche Kurzsichtigkeit hinsichtlich des Maßstabs und der Ähnlichkeit erforderlich, um sich dem Glauben hinzugeben, daß alles, was sich außerhalb dieser dünnen Schicht befand, ignoriert werden konnte. Es ging nicht nur um die Frage, ob man sich freiwillig in einer geschlossenen Welt aus synthetischen Formen isolierte; denn die Körperlichen waren niemals gegen diese Kurzsichtigkeit gefeit gewesen, genausowenig wie die Bürger mit dem weitesten Horizont. Zweifellos hatten die Transformer in einer bestimmten Phase ihrer Geschichte ebenfalls darunter gelitten.
Natürlich mußten sich die Transformer der sehr großen, sehr toten himmlischen Maschinerie bewußt sein, die die Diaspora nach Swift und darüber hinaus getrieben hatte. Ihre Frage würde lauten: »Warum seid ihr einen so viel weiteren Weg gekommen? Warum habt ihr euer eigenes Volk hinter euch gelassen?«
Yatima konnte nicht für heinen Reisebegleiter sprechen, doch für hie lag die Antwort am entgegengesetzten Ende der Skala, im Bereich des sehr Einfachen und sehr Kleinen.
1 Waisenkind
Konishi-Polis, Erde
23 387 025 000 000 KSZ
15. Mai 2975, 11:03:17.154 WZ
Der Konzeptor war eine nicht-bewußte Software, die bereits so alt wie die Konishi-Polis war. Ihr Hauptzweck bestand darin, den Bürgern der Polis die Erschaffung von Nachkommen zu ermöglichen: das Kind eines Elternteils oder zweier oder zwanzig Eltern, teils nach ihrem Vorbild geschaffen, teils nach ihren Wünschen oder auch nach den Launen des Zufalls. Doch gelegentlich, ungefähr einmal pro Teratau, erschuf der Konzeptor einen Bürger ohne jede Eltern. In Konishi entstand jeder polisgeborene Bürger aus einem Mentalkeim, einer Kette von Anweisungen, ähnlich einem digitalen Genom. Die ersten Mentalkeime waren vor neun Jahrhunderten von DNS-Strängen übersetzt worden, als die Gründer der Polis die Shaper-Programmiersprache erfunden hatten, mit der die grundlegenden Prozesse der Neuroembryologie simuliert werden konnten. Doch jede solche Übertragung war notwendigerweise unvollkommen, da sie die biochemischen Details zugunsten weitgefaßter, funktionaler Äquivalenzen verwischte, wodurch die Vielfalt und Gesamtheit des Genoms der Körperlichen nicht gewahrt werden konnte. Da sich der Bestand an Eigenschaften reduziert hatte, nachdem die alten DNS-Schablonen überholt waren, war es besonders wichtig, daß der Konzeptor die Konsequenzen neuer Variationen für die Mentalkeime genau erfaßte. Jede Veränderung zu meiden würde das Risiko der Stagnation heraufbeschwören; sie leichtsinnig gutzuheißen wäre dagegen eine Gefährdung der Gesundheit jedes Kindes.
Die Mentalkeime von Konishi waren auf Milliarden von Feldern aufgeteilt: kurze Segmente, jedes nur sechs Bit lang, von denen jedes einen einfachen Befehl enthielt. Sequenzen aus mehreren Dutzend Anweisungen ergaben Shaper, die grundlegenden Subprogramme, die während der Psychogenese zur Anwendung kamen. Die Auswirkungen nicht erprobter Mutationen auf fünfzehn Millionen interagierende Shaper ließen sich kaum im voraus abschätzen. In den meisten Fällen hätte die einzige zuverlässige Methode darin bestanden, jede Aktion zu berechnen, die auch der geänderte Keim ausgeführt hätte … also war es einfacher, gar keine Voraussagen zu treffen, sondern abzuwarten, bis der Keim gewachsen war und sich
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