Dichterliebe: Roman (German Edition)
sich oben mit seinem Computer einschloß und den man wochenlang kaum zu Gesicht bekam, offenbart eine Manie und führt sie sogleich vor.
» Wünschen Sie sich die DDR zurück?« fragt Sidonie.
» Ach, nee. An der DDR bin ich erstickt. Ich hab’s nicht gemerkt, man merkt ja nie, mit wieviel tausend Fäden man an seiner Wirklichkeit hängt. Aber ich war zuletzt von einer wahnsinnigen Unruhe …«
Manie.
» … und als die Mauer aufbrach …«
Aufbrach!
» … da ist das ungelebte Leben in mir explodiert. Ich hielt es keinen Tag mehr in Halle aus.«
Das ungelebte Leben – was für eine vulgäre Formulierung. » Sie sollten nicht alles für bare Münze nehmen«, muß ich Sidonie warnen. (Bei Gelegenheit muß man ihr beibringen, daß hier alle per Du sind.) » Er hatte eine Familie, er hat einen Sohn gezeugt, fünf Bücher publiziert und seine Frau betrogen. Was daran ungelebt sein soll, weiß wohl nicht mal er selbst.«
*
Robert doziert: » Wir waren keine Dissidenten gewesen. Wir sahen, wieviel im Argen lag, aber es war unser Arges, wir kämpften um unsere kleinen Freiräume und faßten sie in Worte – Lyrik kann das besser als Epik und Dramatik, sie ist formal am stärksten verschlüsselt und dadurch inhaltlich im tiefsten Sinn frei. Wenn Literatur ein Modell für die Welt liefert, ist Lyrik das versponnenste und unabhängigste Modell. Das Publikum verstand das. Hier im Westen braucht uns keiner. Selbst wenn wir uns hier auskennen würden, hätte der Markt keine Verwendung für uns, hier stechen die simplen Formen. Ein doppeltes Fiasko: Wir sind nicht auskunftsfähig, und wären wir’s, nützte es auch nichts.«
Sidonie hängt an seinen Lippen.
Obwohl er nicht falschliegt, ist mir unangenehm, daß er mich einbezieht. » Ich bin in keiner Welt kompetent gewesen«, stelle ich richtig. » Daß ich kein Dissident war, gebe ich zu, wobei über mich eine sechs Ordner dicke Opferakte existiert. Aber fremd habe ich mich überall gefühlt, dort wie hier.«
» Gefühlt fremd«, spottet Robert, » aber meßbar kompatibel. Henry war bei uns ein Star: Heinrich-Heine-Preis, Heinrich-Mann-Preis, Großer Akademie-Preis, Nationalpreis, Reisekader, höher konnte ein Dichter nicht steigen. Er hat mehr verloren als ich. Aber auch mich ernährte die Kunst, meine Gedichtbände hatten Auflagen von fünftausend Stück. Im Westen wäre das undenkbar, hier gibt es mehr Lyrikschreiber als -leser. Auf einmal sind wir lächerliche Figuren. Kein Wunder, daß unsere Frauen uns verlassen haben.«
Quatschkopf. Ich bin nicht freiwillig zu Hause ausgezogen; ich liebte meine Wohnung in Halle-Neustadt. Als meine Frau sagte, sie gehe jetzt zu einer Freundin und erwarte, mich nach der Rückkehr nicht mehr vorzufinden, besoff ich mich, hörte dröhnend laut das Dies Irae aus dem Verdi-Requiem und dachte: Hier bringt dich keiner raus. Spätabends kam Marita mit der Freundin zurück, sah mich im Lehnstuhl hängen und rief die Polizei. Im Protokoll stand später wegen Randalierens – ich hätte einen Schokoladeosterhasen nach ihr geworfen. Daran erinnere ich mich nicht. Ich weiß aber, daß ich zu einem der beiden jungen Polizisten sagte: » Wir können das ganz schnell erledigen. Geben Sie mir Ihre Dienstpistole, dann erschieß ich mich.« Der Polizist rief auf der Wache an: » Hier will sisch eener mit meiner Dienstpistole erschießen, was soll ma duhn?«
Sie nahmen mich mit. Ich lachte mich halbtot und winkte aus dem Auto den Passanten zu; noch bei der Aufnahme lachte ich. Ich bekam eine Zwei-Mann-Zelle für mich allein. Alles versifft, verkeimte Decken und Matratze, Ausblühungen von Kalk an den Wänden, und ich lachte immer noch, deckte mich nicht zu und schlief lachend ein. Um sechs Uhr früh erwachte ich, fahles Morgenlicht hinter dem Gitterfenster und stürmischer Vogelgesang. Erst da überfiel mich Panik. Was, wenn sie mich hierbehielten? Ich rief. Von da an kam jede Stunde ein Polizist, der mir eine Zigarette gab und anzündete. In der Zelle durfte ich nichts haben.
Am Vormittag entließen sie mich. Ich kehrte ein letztes Mal in die Wohnung zurück, duschte, packte meinen Koffer, warf den Schlüssel auf den Boden und ging.
*
Gestern abend hat uns ein Gewitter überrascht, wir flohen ins Haus und machten Feuer im Kamin. Nachbar Sayed kam dazu, später Gabriel. Gabriel, dem unser Rotwein nicht gut genug war, stiftete zwei Flaschen aus dem Künstlerhauskeller, stieß mit allen an, leicht gerötete Augen, angedeutetes Sächsisch,
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