Der Beutegaenger
August 1980
Der Gestank nach Chlor und Urin umfing sie wie ein unsichtbarer Schleier. Sie pinkeln einfach ins Becken, behauptete ihre Mutter, sie pinkeln ins Becken, und du schwimmst darin herum. Stank es in den Umkleidekabinen deshalb so sehr? Oder pinkelten sie auch in die Kabinen?
Sie wollte es gar nicht wissen. Sie wollte schwimmen. Das kühle türkisblaue Wasser auf ihrem Körper spüren. Und nicht denken. Nicht heute.
Sie verriegelte die Tür und schlüpfte aus ihren Sandaletten. Das morsche Holzgitter auf dem Fußboden troff noch von der Nässe fremder Füße, unbekannter Menschen, die längst wieder auf dem Heimweg waren, zurück in irgendeine Wohnung oder irgendein Haus. Wer in aller Welt schwamm so früh am Morgen, noch früher als sie, und war sogar schon wieder damit fertig? Jemand, der keine Wahl hatte, so wie sie? War sie denn nicht eine der Ersten gewesen, an diesem Morgen? Ihre Augen glitten von dem Gitter hinauf zur Tür der Kabine, die nicht richtig mit der Wand abschloss. Ein schmaler Spalt klaffte dort, durch den das ferne Tageslicht sickerte. Schnell trat sie einen Schritt zurück, bis sie ganz in der Ecke stand. Erst dort streifte sie sich das weiße T-Shirt über den Kopf. Darunter trug sie bereits ihren Badeanzug. Es sollte schnell gehen. Es musste schnell gehen. Ausziehen, schwimmen, umziehen und gleich wieder nach Hause. Ihre Freundinnen würden es nie erfahren ...
Kommst du heute Nachmittag?
Wohin?
Ins Schwimmbad.
Ich schwimme nicht.
Ihr Fahrrad stand direkt neben dem Eingang, hinter dem Drehkreuz bei der Kasse. Abtrocknen, umziehen, losfahren. Und vorher eine kleine Freiheit. Das frische, kühle Wasser auf ihrer Haut. Es war ganz nah. So nah, dass sie es hören konnte. Es schwappte mit einem satten Schmatzen über den Beckenrand. Wieder und wieder. Fast war ihr, als könnte sie auch das Glitzern hören, das die Morgensonne auf die winzigen Wellen zauberte. Wie funkelnde türkisblaue Sterne. Wasserkristall. Darüber der weite Augusthimmel, so blau, als habe sich jemand die Farbe eigens für diesen besonderen Tag ausgedacht. Und keine Wolke am Himmel. Nicht eine einzige. Das herrliche, kühle Wasser fast für sie allein. Nur Rentner und ein paar Gesundheitsapostel um diese Uhrzeit.
Du könntest ja auch einfach nur in der Sonne liegen. Was?
Sie rieb sich die nackten Schultern. Nur noch ein Jahr. Nein, nicht einmal mehr ein ganzes Jahr. Nur zehn Monate. Und dann Studium. Fort von den Eltern. Und dem Haus. Fort von Tante Louise. Der Gedanke stimmte sie traurig. Aber es ging nicht anders. Jetzt nicht mehr. Nicht, nachdem es sich derart zugespitzt hatte. Sie faltete ihre Shorts zusammen und legte sie zuoberst auf die hellgrüne Basttasche, die an der dünnen Sperrholzwand lehnte. Ihre Beine waren schneeweiß. Wie Porzellan. War es denn wirklich erst vor einem Jahr gewesen, dass sie in der Sonne gelegen hatte? Der letzte Sommer, der unbeschwerte, schien eine Ewigkeit her zu sein.
Ich meine, du brauchst ja nicht ins Wasser zu gehen, wenn du nicht schwimmen willst.
Ich habe Nein gesagt.
Ist es wegen ...?
Nein!
Sie hatte die Schritte nicht gehört. Dabei tat sie alles, wassie tat, so leise wie möglich. Das Leisesein war ihr längst zur selbstverständlichen Gewohnheit geworden. Trotzdem hatte sie nichts gehört. Nicht dieses Mal. Es war ihr Blick, der zufällig auf die Ritze neben der Tür fiel. Die Ritze war schwarz geworden ...
Und wenn ich dich begleite?
Das würde nichts nützen.
Natürlich würde es das.
Du weißt nicht, wie er ist.
Sie starrte auf den Spalt, durch den eben noch das ferne Tageslicht gefallen war und der sich nun verdunkelt hatte. Was bedeutete das? Was, verdammt noch mal, bedeutete das ? Sie fühlte, wie ihr Puls schneller ging. Aber er konnte es unmöglich wissen! Wissen, dass sie hier war. Ahnen, dass sie es gewagt hatte ... Nein. Nein . Er wähnte sie noch im Bett. Schlafend. Natürlich. Es waren doch Ferien. Und sie hatte genau aufgepasst. Das Rad schon gestern Abend fortgebracht zum Spielplatz ans andere Ende der Straße. Und das enge Fenster, aus dem sie mit ihrer hellgrünen Basttasche in die Freiheit geklettert war, lag auf der anderen Seite des Hauses. Auf der harmlosen Seite. Einmal im Jahr hatte sogar sie das Recht auf ein Bad im sonnenfunkelnden Wasser. Jetzt oder nie. Einmal ist keinmal. Der Sommer neigte sich bereits seinem Ende zu. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Und die Rollläden vor seinen Fenstern waren heruntergelassen gewesen, auch
Weitere Kostenlose Bücher