Dichterliebe: Roman (German Edition)
zitternder Schnurrbart: » Schön, daß es euch gibt!« Auch Sidonie duzte er, bei der dann endlich der Groschen fiel. Sie ist sechsunddreißig, erfuhr ich bei der Gelegenheit, und hat wirklich wenig Ahnung von uns – eine Gelegenheit für Gabriel, seine robusten Künstlerhauslegenden anzubringen.
Einführung: » Wir trinken auf meine Anna! Sie hat diesen Ort entdeckt! Die Höfe waren Ruinen, keiner der Bauern traute sich ran, weil sie unter Denkmalschutz standen. Dreihundert Jahre alt! Dieses Kaminzimmer war die Gesinde- und Viehküche, deswegen der riesige Kamin. Der Steinboden ist historisch. Hinter der Tür begann der Stall, über dem Stall in Kojen schlief das Gesinde, links die Mägde, rechts die Knechte, nächtlicher Kreuzverkehr unvermeidlich … Am Dachbalken der heutigen Bibliothek hat sich die letzte unverheiratete Erbin mit einem Kälberstrick erhängt.«
Zweite Runde: » Meine Anna! So viel Einsatz, so viel Liebe, ein Drama nach dem anderen, wenig Dank. Und nun, da es endlich rundläuft, darf sie nicht dabeisein – Anna, wir trinken auf dich!« Er prostet in die Luft. » Das erste Jahr war ich vor allem damit beschäftigt, René Uherek am Selbstmord zu hindern. Er hatte angekündigt, sich zu Tode zu saufen. Ein einziges Mal war ich für ein paar Tage fort, da trank er drei Flaschen Wodka, und ausgerechnet Anna mußte ihn retten – ihr waren die Fliegenschwärme vor seinem Fenster aufgefallen. Jetzt muß ich, Gnädigste«, eine leichte Verbeugung zu Sidonie, » rasch hinzufügen, daß wir grundsätzlich keine Stipendiatenwohnungen betreten, wir achten die Privatsphäre. Du hast also, Gnädigste«, er stößt mit ihr an, » nicht zu befürchten, daß eventuell jemand deinen eventuellen Kreuzverkehr stört! Aber im Fall von Uherek war’s richtig einzudringen – er lag komatös in seiner – nun, er lag seit Tagen …«
Mir graust, nicht wegen des von mir bewunderten Uherek, der schon in der DDR als Untergeher galt, sondern wegen mir; in diesem Fliegenschwarm erblicke ich meine Zukunft, sie platzt als Vision direkt vor meinen Augen, ich pralle zurück, niemand merkt es. Gabriel fährt begeistert fort – er genießt diese Geschichten, sie bedeuten für ihn Pathos, Existentialität, Bohème, all das, was er nie wirklich riskiert hat, abgesehen von einer durch Keramikfabrik und Anna gesicherten Zügellosigkeit.
Immerhin muß man sagen, daß Gabriel keinem Künstler je etwas übelnahm, er verzeiht jede Unverschämtheit, jeden Wahnsinn. Er lacht über den Maler, der vom Bibliothekstelefon aus mit Chile telefonierte, angeblich um Honecker zu sprechen, und über die Autorin, die Schadensersatz forderte, weil nach einem Rohrbruch ihr Computer naß wurde. Er lacht besonders über den Autor, der aus Eifersucht mit dem Messer die Gemälde eines Bildenden zerfetzte – die Eifersucht galt nicht mal einer Frau, sondern dem Talent des Bildenden, bemerkt Gabriel kopfschüttelnd, und auch der Bildende zog vor Gericht, nicht gegen den Eifersüchtigen, sondern gegen das Künstlerhaus …
Wir lassen ihn reden, er braucht das, um sich zu vergewissern, um sich abzulenken, um uns zu imponieren, und er imponiert uns auch: Wie er Künstler bändigt, Klagen abweist, Streit schlichtet, die Dörfler beruhigt, weil Künstler am Dorfeingang ein Verkehrsschild aufstellten: Auschwitz 1001 km. » Kürzlich hat der Bildhauer Fritz was mit der Fernsehfrau Steinbrecher angefangen – sie heißt wirklich so«, lacht Gabriel, » vielleicht hat das den Fritz stimuliert. Die Steinbrecher kam eigentlich zu uns, um fürs Fernsehen eine Künstlerhaus-Doku zu drehen, und dann verliebte sie sich in den Steine brechenden Fritz und brannte mit ihm durch. Leider ist der gehörnte Gatte ausgerechnet der Regierungsbeamte, der für uns zuständig ist, und er wollte sofort die Subventionen streichen. Nächsten Monat ist das frevelhafte Paar bei uns zu Gast, und ich weiß noch nicht, welche Taktik ich anwenden werde: die beiden auseinanderbringen, damit uns Steinbrecher wieder unterstützt, oder dafür sorgen, daß Fritz sie weiterbumst, um Steinbrecher zu demütigen.«
Gegen elf sagt er, er gehe jetzt zu Bett: » Kommst du mit rauf, Sidonie, auf ein Gläschen Grappa?«
» Wie hat er das gemeint?« fragt Sidonie verblüfft, als Gabriel verschwunden ist.
» Genau so!« amüsiert sich Sayed mit seinem gaumigen arabischen Akzent. » Wir nennen ihn Grappiel.«
*
Nachts wirft sich Sayed auf seinem Bett hustend hin und her. Da seine Wohnung im
Weitere Kostenlose Bücher