Die 39 Zeichen 08 - Entfuehrung am Himalaya
seines außergewöhnlichen Gedächtnisses lernte er schnell und vergaß nichts, was man ihm bereits beigebracht hatte.
Der Höhepunkt der Übungsstunde war ein kleiner Kampf: Dan gegen vier der gefährlichsten Kämpfer der Welt. Natürlich wusste er, dass sie ihn gewinnen ließen. Doch das Gefühl, einen Kung-Fu-Meister auf die Matte zu schicken, war einfach unbeschreiblich – auch wenn der Kerl sich mehr oder weniger freiwillig hinwarf.
Plötzlich sah Dan seine Chance kommen. Der Mönch vor ihm lag am Boden, genau in der richtigen Position für einen der Griffe, die Dan soeben erlernt hatte. Das war sie, die einmalige Möglichkeit für den Novizen, sich in einem echten Shaolin-Kampf zu beweisen.
Als Dan sprang, griffen zwei kräftige Hände nach ihm und schnappten ihn am Vorderteil seiner Robe. Plötzlich war der Fuß seines Gegners in seinem Bauch, doch er trat ihn nicht, sondern hob Dan mit erstaunlicher Kraft in die Höhe. Noch während er durch die Luft flog, schoss ihm der triumphale Gedanke durch den Kopf: Ich werde von einem echten Shaolin-Meister ausgebildet! Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass er sich, sobald er unten aufkam, jeden einzelnen Knochen brechen könnte.
Doch die anderen drei fingen ihn auf und stellten ihn sanft auf die Matte zurück. Rasch machte er eine kurze Bestandsaufnahme seines Körpers: zwei Arme, zwei Beine, alles noch dran.
Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. »Das war so was von abgefahren! Wie haben Sie das nur gemacht?«
Seine Lehrer blickten ihn mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck an.
»Das ist im Wushu die Grundlage jeder Verteidigung«, erklärte derjenige, der ihn geworfen hatte. »Der Schwung des Gegners ist dein größter Verbündeter.«
Ein weiterer Mönch brachte ein Teeservice und eine Platte mit Essen. Das Training war beendet. Dan biss auf einen frittierten Happen, kaute nachdenklich darauf herum und versuchte den fremden Geschmack einzuordnen. Nicht schlecht, fand er. Knusprig, ein wenig salzig, etwa wie eine Schweinebratenkruste, doch die Konsistenz war anders.
»Was ist das?«, fragte Dan und schob sich noch einen in den Mund.
»Das ist eine Spezialität: Seidenspinner.«
Dan hätte alles beinahe durch den ganzen Raum gespuckt. »Wir essen Spinnen?«
»Nein. Der Seidenspinner ist die Raupe des Bombyx mori. Das ist ein Schmetterling.«
Als ob das irgendwie besser wäre. Also keine Spinnen, sondern Raupen. Dan musste seinen ganzen Willen zusammennehmen, um den letzten Bissen hinunterzuschlucken. Er wusste, dass er es sich nur einbildete, doch in seinem Magen spürte er einen ganzen Insektenschwarm umherflattern.
Unsicher stand er auf. »Ich glaube, ich brauche etwas frische Luft.«
Einer der Mönche begleitete ihn durch die vielen Flure zurück in den Chang-Tsu-Hof. Dan bedankte sich und taumelte aus dem Gebäude.
Ich werde es nie zu einem Shaolin-Mönch bringen. Fantastische Kampfkunst, aber was für eine Küche!
Die Touristen und Besucher betrachteten ihn neugierig – ein westlicher Junge in der Tracht der Shaolin. Dan war zu
übel, um von den Sehenswürdigkeiten beeindruckt zu sein, doch sein Magen beruhigte sich bereits wieder, während er etwas umherlief. Jonah war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war der Star noch im Tempel und signierte Autogramme für seine Shaolin-Fans.
Dan betrachtete interessiert seine Umgebung. Was war denn das? Aus der Entfernung sah es aus wie eine Miniaturstadt. Als Dan davorstand, merkte er jedoch, dass die Bauwerke keine Gebäude waren, sondern Grabmale aus Stein und Ziegeln in der Form chinesischer Pagoden. Einige waren zehn oder gar fünfzehn Meter hoch. Ein Schild erklärte, dass der Friedhof auch als ›Pagodenwald‹ bezeichnet wird. Es war die Ruhestätte der Shaolin-Mönche, die im Lauf der Jahrhunderte dort gestorben und eingeäschert worden waren.
Ganz schön cool – es sei denn, man versucht gerade ein paar Bombyx mori zu verdauen.
Etwas außerhalb des Tempelgeländes fielen Dan neben der Straße mehrere Münzfernrohre auf, die auf den Song Shan gerichtet waren.
Er verließ den Pagodenwald, schlenderte den Pfad entlang und kramte in der Tasche nach Kleingeld. Das war auch so ein Vorteil, wenn man mit dem Wizard-Tross unterwegs war: Jonah hatte ihnen chinesisches Geld besorgt.
Dan verließ die Anlage durch das rückwärtige Tor und machte sich auf den Weg zu den Fernrohren. Er blinzelte zum nebelverhangenen Gipfel des Berges hinauf. Dort sah er in der Ferne ein Monument, das sich
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