Die 39 Zeichen 08 - Entfuehrung am Himalaya
zur Cahill-Familie vor ihnen geheim gehalten hatten, dann von Grace, die die Wahrheit über den Brand verschwiegen hatte. Und dann noch diese Jagd nach den Zeichen, die so etwas wie die Hauptversammlung der weltbesten Betrüger war. Was Jonah Dan wohl in diesem Moment für Lügen auftischte?
Und dann bin da noch ich – jemand, dem sie vertrauen. Jemand, der sie beschützen sollte …
Wenn sie sich je entscheiden müsste zwischen der Mission und Amy und Dan …
Sei nicht so voreilig. Kümmere dich um die Probleme von heute, nicht darum, was morgen sein könnte. Finde Dan. Verhindere, dass Amy durchdreht.
Ungeachtet ihrer geheimen Rolle war Nellie immerhin noch Au-pair-Mädchen. Sie war für die Kinder verantwortlich. Und das schloss auch Dans Sicherheit und Amys geistige Gesundheit ein.
Lenk sie ab.
Sie schaute Amy an. »Wie ist das Buch? Irgendwelche Hinweise? «
Amy zuckte die Schultern. »Pu Yi war tatsächlich ein Janus. Ich kenne die Sorte Mensch: total verzogen, verrückt nach Kunst, egozentrisch. Dem Buch zufolge war sein Leben, nachdem man ihn vom Thron gestoßen hatte, im Grunde ein einziger
Wutanfall. Solange er im Kaiserpalast bleiben durfte, war es noch nicht so schlimm. Da hatte er Eunuchen, die ihn verehrten, und Diener, die ihm gehorchten. Als er eine westliche Schulbildung erhalten wollte, holten sie ihm einen Lehrer aus London. Er liebte den Westen und nahm sogar einen englischen Namen an: Henry.«
»Kaiser Henry«, überlegte Nellie, »klingt nett. Wie King Ralph.«
»Als sie ihn dann aber schließlich aus der Verbotenen Stadt warfen, ging es bergab mit ihm. Er wurde zu einem Playboy, einem reichen Tunichtgut. Klingt das nicht nach jemandem, den wir kennen?«
»Zumindest arbeitet Jonah für seinen Lebensunterhalt«, entgegnete Nellie. »Ich meine, er ist ein granatenmäßiger Idiot, aber er hat einen Job.«
Der Motor stieß ein wütendes Brüllen aus, als der Bus startete. Endlich fuhren sie wieder.
»Im Zweiten Weltkrieg«, fuhr Amy mit ihrer Geschichte fort, »setzten die Japaner Pu Yi als Kaiser von Mandschukuo ein. Das ist die alte Mandschurei, aus der die Qing-Dynastie ursprünglich abstammte. Er wusste, dass er nur eine Marionette der Japaner war, aber er wollte sich unbedingt wieder als Herrscher fühlen. Dafür musste er später teuer bezahlen, denn als der Krieg vorbei war, saß er zehn Jahre im Gefängnis. Und als er freikam, verbrachte er den Rest seines Lebens als einfacher Bürger und arbeitete in einer Bücherei. Er starb im Jahr 1967.«
»Das ist hart«, antwortete Nellie. »Das war ein weiter Abstieg von den juwelenbesetzten Goldroben. Ich meine, der arme Kerl hatte seinen Lebenshöhepunkt mit sechs.«
»Ist ziemlich typisch für die Cahills«, bemerkte Amy bitter. »Die laden dir alles auf die Schultern, auch wenn du noch ein Kind bist. In unserer Familie hat man keine Kindheit. Wir sind zu sehr damit beschäftigt, die Welt zu beherrschen.«
Und ich mache fleißig mit, dachte Nellie, während der Bus durch die Schlaglöcher polterte. Ich dränge die Kinder zu einem tödlichen Spiel.
Sie verspürte das plötzliche Bedürfnis, das Mädchen neben ihr in die Arme zu nehmen und ihr zu versichern, dass alles gut ausgehen würde und dass sie eines Tages noch ein normaler Teenager sein könnte. Aber auch das wäre eine glatte Lüge.
Sie wandte sich Amy zu: »Pu Yi muss also das Seidentuch bemalt und auf dem geheimen Dachboden versteckt haben, bevor man ihn aus der Verbotenen Stadt vertrieben hat. Die haben ihn bestimmt nicht wieder zurückkehren lassen, damit er sich noch einmal richtig austoben konnte.«
Amy sah auf der Zeitleiste vorne im Buch nach. »Das geschah im Jahr 1924, als er 18 war. Vielleicht hat Pu Yi gespürt, dass seine Tage im Kaiserpalast gezählt waren, und deshalb das Gedicht geschrieben.«
Sie rezitierte aus dem Gedächtnis:
»Was du suchst, hast du in der Hand,
Festgelegt für alle Zeit bei der Geburt,
Wo die Erde dem Himmel begegnet.«
Sie zog die Stirn kraus. »Aber was hat er damit nur gemeint?«
Nellie verdrehte die Augen. »Ihr Cahills sprecht doch immer in Rätseln! «
Amy überlegte weiter. »›Was du in der Hand hast‹, das kann nur das Tuch sein. Und das ist eben nicht , was wir suchen, denn der Hinweis ist woanders. ›Festgelegt für alle Zeit bei der Geburt‹ – tja, aber nichts bleibt genau so, wie es bei der Geburt ist. Und ›wo die Erde dem Himmel begegnet‹ …«
»Ich habe Neuigkeiten für dich«, sagte Nellie
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