Die Äbtissin
die Frau getroffen, die mehr für sie war als eine Freundin oder eine entfernte Kusine. Ihre Gefühle für Inés waren die einer Mutter für ihre Tochter, die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Weder die Entfernung noch die Zeit hatten daran etwas ändern können. Sie würde sie nicht im Stich lassen, wie sie Joaquina im Stich gelassen hatte, die zwei Tage nach ihrer Abreise nach Extremadura gestorben war. Als sie bei ihrer Rückkehr davon erfuhr, wusste sie, dass sie es für den Rest ihres Lebens bereuen würde, in diesem Moment nicht bei ihr gewesen zu sein.
Sie entschied, nicht um Erlaubnis für die Reise zu ersuchen, denn es würde Tage dauern, bis diese eintraf. Es war ihr gleichgültig, was man in Toledo denken mochte. In ihrem Alter erwartete man keine Ehren mehr. Es bekümmerte sie auch nicht sonderlich, ob man sie ihres Amtes als Äbtissin enthob, dessen Verpflichtungen jeden Tag schwerer auf ihren Schultern lasteten. Nachdem sie María der Jüngeren die Leitung des Klosters übertragen hatte, stieg sie in die Kutsche und wies die beiden Männer an, unverzüglich aufzubrechen.
Wie sehr unterschied sich diese Reise von der ersten! Sie rasteten nur drei Stunden, damit die Pferde sich ausruhen und sie selbst sich waschen und etwas essen konnten. Sie reisten sogar die ganze Nacht hindurch, wobei die beiden Männer abwechselnd die Zügel übernahmen. María schlief mit Unterbrechungen und sah die Gesichter all jener an sich vorüberziehen, die sie geliebt hatte, und auch derer, die sie nicht geliebt hatte. Sie betete darum, rechtzeitig zu kommen, um Inés in ihren Armen halten und ihr sagen zu können, wie sehr sie sie liebte und wie sehr sie sie vermisst hatte. María hatte ihre Gefühle nie offen ausgedrückt. Sie hatte immer geglaubt, es würde sie verletzlich machen, und vor langer Zeit hatte sie beschlossen, dass sie nie wieder jemand verletzen sollte. Dennoch sehnte sie sich danach, ihr Herz öffnen zu können, und sei es nur ein einziges Mal.
Am Abend des zweiten Tages erreichten sie Bilbao. In der Stadt, die sie als fröhlich, lebhaft und lärmend in Erinnerung hatte, herrschte Totenstille. Nur das Schreien der Kranken war zu hören und das Klagen der Hinterbliebenen, die in einigem Abstand den Karren folgten, auf denen die Leichen zum Verbrennen vor die Tore der Stadt gebracht wurden. Die Türen der Häuser und auch die Fensterläden waren geschlossen. Unheilvoll dröhnten die Glocken der Klöster und Kirchen, und jeder Glockenschlag war das herzzerreißende Seufzen eines Volkes, das ohnmächtig zusah, wie die Pest Junge und Alte dahinraffte, ohne dass man etwas dagegen unternehmen konnte.
Als die Kutsche vor dem Nebengebäude hielt, das als Stall diente, kam Gonzalo nach draußen, um sie zu begrüßen. Er war dünn, und das spärliche Haar, das seinen Kopf bedeckte, war ebenso ergraut wie der Bart. Große dunkle Ringe hatten sich um seine eingesunkenen Augen eingegraben, in denen die Verzweiflung geschrieben stand.
»Doña María! Gott sei Dank!«
Er konnte nicht an sich halten und umarmte sie kräftig, während ihm die Tränen übers Gesicht rannen.
»Wie geht es ihr?«, fragte María, die nicht wusste, wie sie so viel Leid begegnen sollte.
»Sie wird sterben, und ich kann nicht ohne sie leben.«
María lächelte traurig. Diese beiden Menschen liebten sich nach fast dreißig Jahren immer noch mit unveränderter Intensität. Inés und ihren Mann zusammenzubringen war das Beste gewesen, was sie in ihrem Leben getan hatte.
Gonzalo führte sie in das Zimmer seiner Frau und ließ die beiden alleine. Inés lag kraftlos in dem großen Bett, das einmal Don Pedro de Larrea gehört hatte. Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie war derart abgemagert, dass ihr Körper kaum unter der Decke zu erkennen war. Die Folgen der Krankheit waren unübersehbar, aber es waren keine Beulen zu sehen, und auch ihr hübsches Gesicht, das mit den Jahren eine gelassene, reife Schönheit bekommen hatte, war nicht entstellt.
»Ehrwürdige Mutter…«, sagte Inés stockend, als sie María neben dem Bett stehen sah.
»Ts ts, meine Liebe, ich bin nicht die ehrwürdige Mutter. Für dich bin ich deine Kusine und Freundin María.«
»Danke, dass Ihr gekommen seid. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe und wollte Euch noch einmal sehen.«
María trat näher und wollte Inés’ Hand nehmen, doch die Kranke zog sie rasch zurück.
»Kommt nicht näher«, bat sie. »Es reicht, dass einer aus der Familie erkrankt
Weitere Kostenlose Bücher