Die Akte Golgatha
dieser Mann weit davon entfernt war, mir einen Bären aufzubinden. Jedenfalls faszinierte mich sein Bericht ungemein, und meine Erfahrung (oder war es mein sechster Sinn?) im Umgang mit Menschen sagte mir, dass hinter dieser Geschichte viel mehr steckte als ein Allerwelts-Ehedrama. Gropius war nicht der Typ, der einen Fremden, und ein Fremder war ich für den Professor noch immer, grundlos in sein aus den Fugen geratenes Privatleben hineinzog. Auch sah ich in ihm nicht den Mitleid heischenden Egoisten, der sein Schicksal als das schlimmste von allen beweint. Deshalb bat ich den Professor um Erlaubnis, mir Notizen machen zu dürfen.
»Das brauchen Sie nicht«, sagte der Professor. »Ich habe Sie aufgesucht, um Ihnen meine Aufzeichnungen zu überlassen. Ich glaube, bei Ihnen sind sie in den richtigen Händen.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, Professor, wollen Sie Geld für Ihre Geschichte!«
»Geld?« Gropius lachte bitter. »Geld habe ich genug. Wie ich schon sagte, hat man mir für zehn Millionen den Mund verboten – allerdings zu einer Zeit, da noch niemand ahnen konnte, wie die Geschichte ausgehen würde. Nein, ich möchte nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und Sie können das bestimmt besser in Worte kleiden als ich.«
»Die Wahrheit?«
Ohne Umschweife begann Gropius nun zu erzählen, stockend zuerst, dann immer schneller werdend und Bezug nehmend auf Querverbindungen in einem ungeheuerlichen Gewirr von Abenteuern und Intrigen. Als er zum Ende kam, war es kurz vor Mitternacht. Wir sahen uns lange an. Gropius leerte sein Glas und sagte: »Danke, dass Sie mir so lange zugehört haben.« Dann erhob er sich. »Ich denke, wir werden uns in diesem Leben nicht mehr wiedersehen.«
Ich lächelte. »Vielleicht im nächsten.«
Gropius reichte mir die Hand und verschwand in der Dunkelheit. Mich fröstelte. Schon merkwürdig, dachte ich. Da fahre ich nach Italien, um einen neuen Roman zu schreiben, und dann bekomme ich eine wahre Geschichte geschenkt, die alles, was man sich auszudenken vermag, in den Schatten stellt.
K APITEL 1
E intausendsechshundert Gramm braunes, wabbelndes, menschliches Gewebe in einer kalten Kristalloidlösung – eine menschliche Leber in einem hochformatigen Aluminiumkoffer mit der Aufschrift ›Eurotransplant‹ auf dem Weg von Frankfurt nach München. Nachts um 2 Uhr 30 hatte der Fahrer im Klinikum der Johann Wolfgang von Goethe-Universität am Theodor-Stern-Kai das zur Transplantation bestimmte Organ übernommen. Jetzt jagte der schnelle Wagen in Richtung München über die Autobahn.
Für gewöhnlich werden Spenderorgane mit dem Flugzeug befördert; aber wegen des Nachtflugverbots in München hatte man den Weg über die Autobahn gewählt. Der Computer von ELAS, dem Leber-Zuteilungssystem von Eurotransplant, hatte den Altertumsforscher Arno Schlesinger als möglichen Empfänger ermittelt. Ein Gremium von drei Ärzten am Münchner Klinikum stimmte der Auswahl zu. Schlesinger, sechsundvierzig Jahre alt, stand seit vier Monaten auf der Warteliste, seit sechs Wochen lief er unter Dringlichkeitsstufe T2. Bei einem Unfall war seine Leber erheblich verletzt worden.
Wie stets blieb der Name des Spenders ungekannt. Nur soviel wurde bekannt: ein tödlicher Unfall. Hirntod gegen 23 Uhr. Blutgruppe des Spenders AB Rhesus negativ, verträgliches Antigenmuster mit A. Schlesinger, Klinikum München – so hatte die Datenbank von ELAS blitzschnell ermittelt.
Professor Gregor Gropius, als Transplanteur trotz seiner jungen Jahre eine Kapazität, war vom diensthabenden Assistenzarzt Dr. Linhart gegen 5 Uhr 30 aus dem Bett geklingelt worden. Er hatte geduscht, eine Tasse Pulverkaffee in sich hineingeschüttet, einen grauen Zweireiher angezogen, die passende Krawatte vor dem Spiegel zurechtgerückt, und jetzt steuerte er seinen dunkelblauen Jaguar vom Münchner Villenvorort Grünwald in Richtung Norden.
Die Straßen waren feucht, obwohl es nicht geregnet hatte. Der verhangene Himmel kündigte einen diesigen Tag an. Es war die sechzehnte oder siebzehnte Lebertransplantation in seiner kurzen erfolgreichen Laufbahn, wie immer war Gropius angespannt. Er hatte kaum Augen für den einsetzenden Berufsverkehr, überfuhr, ohne es zu bemerken, eine rote Ampel und schaltete das Autoradio aus, als der Nachrichtensprecher neue Anschläge in Israel verkündete.
Der diensthabende Arzt hatte bereits das Operationsteam zusammengetrommelt. Für Fälle wie diesen gab es einen Notplan, der, einmal in Gang gesetzt, mit
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