Die Akte Golgatha
Männer vor dem Haus hatten sich getrennt. Jetzt standen sie rauchend und im Abstand von hundert Metern auf der Straße herum. Ein dreirädriger Lieferwagen knatterte über das Pflaster. Irgendwo krähte ein heiserer Hahn, als fürchte er um sein Leben. Aus dem unteren Stockwerk, wo sich die Küche befand, war das Rumoren der Spülmaschine zu vernehmen.
Der Mann an meiner Seite gab mir weiter Rätsel auf, und ich wusste wirklich nicht, wie ich ihm begegnen sollte. Wir hatten während des Essens über Belanglosigkeiten geredet, aber genaugenommen hatte Gropius mir die Tür zu seinem Leben noch keinen Spalt geöffnet. Und so fragte ich unwillig – schließlich war er gekommen, um mir irgendetwas Bedeutsames anzuvertrauen – in eine längere Pause hinein: »Wer sind Sie, Professor Gropius? Ich bin nicht einmal sicher, ob das Ihr wirklicher Name ist. Aber vor allem: Was haben Sie mir zu sagen? So reden Sie endlich!«
Da gab sich Gropius einen Ruck. Man konnte förmlich sehen, wie er alle Hemmungen, die ihn bis zu diesem Zeitpunkt gequält hatten, abstreifte. Behutsam legte er das Manuskript vor uns auf den Tisch und beschwerte es mit beiden Händen.
»Ich heiße wirklich Gropius, Gregor Gropius«, begann er so leise, dass ich näher rücken musste, um ihn zu verstehen. »Ich machte mit vierundzwanzig meinen Doktor der Medizin, mit achtunddreißig wurde ich Professor an einem Großklinikum in Süddeutschland. Dazwischen zwei Jahre Auslandsaufenthalt in renommierten Kliniken in Kapstadt und Boston. Kurz, eine Karriere wie aus dem Bilderbuch. Ach ja, und da war noch Veronique. Ich traf sie auf einem Kongress in Salzburg, wo sie als Hostess arbeitete. Eigentlich hieß sie Veronika, und von ihren Eltern, die außerhalb der Stadt ein Fiaker-Unternehmen betrieben, wurde sie Vroni gerufen. Aber daran wollte sie nicht erinnert werden. Wir heirateten vier Wochen nachdem ich meinen Doktor in der Tasche hatte, in Schloss Mirabell und mit einer von vier Schimmeln gezogenen Kutsche. Zu Beginn unserer Ehe ging alles gut. Veronique war außergewöhnlich attraktiv. Ich verehrte sie, und sie betrachtete mich als eine Art Wunderknaben; das schmeichelte mir natürlich. Rückblickend muss ich jedoch sagen, als Grundlage einer Ehe war beides zu wenig. Ich hatte nur meine Karriere im Kopf, und Veronique akzeptierte mich weniger als Partner denn als Sprungbrett in höhere Gesellschaftskreise. Nur gelegentlich oder wenn sie eine größere Summe Geld brauchte, täuschte sie Liebe vor; aber ein solches Ereignis musste dann wieder sechs Wochen reichen. Kinder standen übrigens nie zur Debatte. Kinder, pflegte sie zu sagen, sollten dankbar sein, wenn sie nicht in diese schreckliche Welt hineingeboren würden. In Wahrheit fürchtete Veronique um ihre Figur, da bin ich mir ganz sicher. Kurz, nach zehn Jahren war unsere Ehe am Ende, auch wenn keiner von uns das wahrhaben wollte. Wir wohnten zwar noch in unserem gemeinsamen Haus im vornehmsten Viertel der Stadt, aber gingen beide unsere eigenen Wege, und keiner von uns unternahm je den Versuch, unsere Ehe zu retten. Um sich endlich selbst zu verwirklichen – so pflegte sie sich auszudrücken –, eröffnete Veronique eine PR-Agentur, in der sie Werbekampagnen für Firmen, Verlage und Schauspieler konzipierte. Dass sie mich allerdings gleich mit dem ersten Großauftrag betrog, fand ich schäbig. Ausgerechnet mit einem Sauerkrautkonservenfabrikanten. Gut, er hatte Geld wie Heu und überhäufte sie mit teuren Geschenken; dabei hatte es Veronique bei mir nie an etwas gemangelt. Ich rächte mich auf meine Weise, indem ich eine niedliche Röntgenassistentin mit nach Hause brachte. Sie war fast zwanzig Jahre jünger als ich, und als Veronique uns überraschte – sie kam unerwartet von einer Geschäftsreise zurück –, da schlug die langjährige Gleichgültigkeit von einem Tag auf den anderen in Hass um. Ich werde nie das Feuer in ihren Augen vergessen, als sie zischte: ›Diese Geschmacklosigkeit wirst du mir büßen! Ich mache dich kaputt.‹ Ich muss gestehen, ich nahm ihre Drohung damals nicht ganz ernst. Aber dann, keine drei Wochen später, es war der vierzehnte September, den Tag werde ich nie vergessen, weil er mein Leben veränderte, erinnerte ich mich plötzlich an Veroniques Drohung, und ich versuchte …«
An dieser Stelle unterbrach ich den Professor, der immer lebhafter zu erzählen begann, getrieben von einer seltsamen Unruhe. Ich hatte längst die Überzeugung gewonnen, dass
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