Die Akte Golgatha
Ärmel seines linken Arms war zurückgeschoben. Arm und Gesicht zeigten große dunkle Flecken. Seine rechte Hand hielt eine Injektionsspritze umklammert.
Ingram warf Gropius einen Blick zu, als wollte er sagen: Das ist Ihr Job!
Zögernd trat Gropius an den mit einem schwarzen Anzug bekleideten Mann heran und fühlte dessen Puls. Dann legte er Zeige- und Mittelfinger an seine Halsschlagader und schüttelte den Kopf. »Exitus!«, sagte er leise. »Könnte schon gestern passiert sein.«
Auf dem Schreibtisch stand ein Plastikfläschchen mit der Aufschrift: ›Chlorphenvinphos‹.
»Das Insektizid, das in Schlesingers Leber injiziert wurde.«
Ingram nickte und öffnete die Tür des alten Kleiderschranks. »Unglaublich«, murmelte er. Er hatte erwartet, alte Kleider, vielleicht ein paar erbauliche Bücher vorzufinden, doch in dem heruntergekommenen Möbelstück war eine Computeranlage modernster Bauart installiert.
»Bei der Polizei müssen wir mit altmodischeren Geräten zurechtkommen«, knurrte Ingram und drückte auf den Einschaltknopf. In Sekunden baute der Rechner ein Programm auf. Ein Fenster meldete eine E-Mail im Speicher.
Ingram drückte auf ›Abrufen‹.
Der Computer forderte ›Kennwort‹.
»IND«, sagte Gropius. »In Nomine Domini.«
Ingram blickte missmutig, tippte dann aber den vermeintlichen Code ein. Im nächsten Augenblick flimmerten die folgenden Zeilen über den Bildschirm:
»Arno Schlesingers Organ wurde von mir mit einer Chlorphenvinphos-Injektion vergiftet. Ich bekenne mich schuldig, auf gleiche Weise das Leben Thomas Bertrams ausgelöscht zu haben, dem ich in Prag geistlichen Beistand leistete. Ich tat es nicht aus Mordlust, sondern aus ehrlicher Überzeugung, dass der Mensch nicht den Willen Gottes ignorieren und Leben künstlich verlängern darf. Ich tat es ›In Nomine Domini‹.«
»Woher kannten Sie eigentlich den Code, Professor?«, fragte Ingram, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
Gropius machte ein ernstes Gesicht: »Würden Sie mir glauben, wenn ich behaupte, es war göttliche Eingebung?«
Lebenszeichen
W enige Tage später wurde die Soko Schlesinger aufgelöst. Der Staatsanwalt stellte die Ermittlungen gegen Gregor Gropius ein. Gegen Dr. Fichte wurde Anklage erhoben wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Veronique Gropius willigte überraschend in die Scheidung ein, ohne weitere Forderungen zu stellen. Felicia Schlesinger und Dr. Rauthmann konnten sich bis heute nicht entschließen zu heiraten. Rauthmann lebt und arbeitet weiter in Berlin, Felicia hat ein Büro in New York eröffnet, wo sie mit großem Erfolg ihrem Beruf als Kunstmaklerin nachgeht.
Über ganz Europa verstreut wurden bisher siebzehn Priester verhaftet, die sich dazu bekannten, dem Orden ›In Nomine Domini‹ anzugehören. Wie viele von ihnen wegen ihrer Überzeugung zu Mördern wurden, ist noch Gegenstand der Ermittlungen. Trotz großer Anstrengungen konnte Interpol Dr. Prasskov bis heute nicht festnehmen. Es gibt Hinweise, dass Prasskov in Russland untergetaucht ist und dort ermordet wurde.
Und Gregor Gropius und Francesca Colella?
Obwohl er von jedem Verdacht freigesprochen wurde, nahm Gropius seinen Beruf nicht wieder auf. Bis heute hat er die schrecklichsten Monate seines Lebens nicht ganz verarbeitet, und das ist auch der Grund, warum er mir seine Geschichte in Tivoli erzählte, erzählen musste. Ob die vierzehn gemeinsam verbrachten Stunden im ›Hotel San Pietro‹ für ihn eine Hilfe waren, vermag ich nicht zu sagen. Ich hoffe es. Gropius schien jedenfalls erleichtert, nachdem er geendet hatte. Wie er mir eingestand, hatte er seine Aufzeichnungen aus München geholt, um seine Erlebnisse selbst zu Papier zu bringen, sich dann aber von einem Augenblick auf den anderen entschieden, diese mir zu überlassen.
Gropius hält sich nur noch selten in München auf. Die meiste Zeit des Jahres verbringt er mit Francesca auf seinem Landgut mit hundert Olivenbäumen in der Nähe von Velletri. Ich habe lange nichts von Gropius gehört. Das letzte Lebenszeichen von ihm war ein kleines Postpaket. Inhalt: ein hufeisenförmiger, verwitterter Knochen. Der Umschlag, den die geldgierige Signora Selvini für zwanzigtausend Euro verkaufte, enthielt eine Fälschung, was Gropius nicht sehr überraschte. Was in der Kassette war, die Francesca Colella im Auftrag von Professore de Luca nach Berlin brachte, bleibt ein Geheimnis, das der Professore mit ins Grab nahm.
Was den Verbleib der Akte Golgatha
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