Die Amerikanerin
fliehen müssen, wie Sie gerade eben selbst gelesen haben.«
Marie schaute gereizt auf. »Ich weiß, ich weiß, jeder muss seine eigenen Wege gehen. Jetzt erzählen Sie mir sicher gleich wieder von dieser Malerin, die es vorgezogen hat, als verkannte Malerin zu sterben, statt sich jemals einem Zeitgeist zu unterwerfen. Paula Modersohn-Becker war ihr Name, oder?« Sie hielt ihren Zeigefinger an die Stirn, als denke sie angestrengt nach. »Oder von einer jener Dichterinnen, die zwar nichts zu essen haben, dafür aber kompromisslose Gedichte schreiben.«
»Der Spott steht Ihnen nicht«, sagte der Buchhändler und schaute dabei angestrengt auf seine Schuhspitzen. »Ich …«
Sie ergriff seine Hand, bevor er weitersprechen konnte. »Entschuldigung. Es war nicht so gemeint, und das wissen Sie. Ich bin heute eine ziemlich dumme Kuh, das ist alles. Und eine undankbare noch dazu.« Sie biss sich auf die Lippen.
Halbwegs versöhnt schaute er wieder auf. »Sie hatten noch nie etwas für Vorbilder übrig, nicht wahr?«
Marie zuckte mit den Schultern. »Was würde mir ein Vorbild auch nutzen? In Lauscha habe ich noch keines gefunden. Ich habe mich doch schon längst von dem Leben unserer Väter und Mütter frei gemacht! Darin sehe ich nichts Revolutionäres mehr. Was also sollte ich mit den Frauen von Welt, die Sie so gern anführen, gemeinsam haben?«
»Die Welt, zum Beispiel«, sagte er mit einer lässigen Handbewegung.
Marie lachte. »Wie Sie das sagen! Als ob die Welt ein Stück Kuchen wäre, nach dem man nur greifen muss, um es sich dann gabelweise zu Gemüte zu führen.«
Auch Sawatzky musste lachen. Dieser Vergleich war typisch für Marie. Er seufzte. »Ganz so einfach ist es nicht – Gott sei Dank, möchte ich anfügen! Aber glauben Sie nicht, dass es endlich an der Zeit wäre, Lauscha einmal zu verlassen? Wenigstens ein bisschen von der Welt zu sehen?« Am liebsten hätte er sie an ihren Traum erinnert und auf seine tiefere Bedeutung hingewiesen. Stattdessen sagte er: »Sehen Sie es doch einmal so: Jede von Ihnen geblasene Weihnachtskugel kommt in der Welt weiter als Sie – ist dieser Gedanke nicht ziemlich erschreckend?«
ERSTES BUCH
New York, drei Monate später
»Und als die Nacht zum Tag
und der Tag zum Traume wurde,
zerfielen alle Fragen
zu glitzerndem Staub.«
1
Schraft’s war der beste Delikatessenladen der Stadt. Wem das Geld für einen Eintritt ins Paradies nicht reichte, der ergötzte sich an den ständig wechselnden Schaufensterauslagen, die in ihrer Kunstfertigkeit mit den besten Galerien der Stadt konkurrieren konnten. Mehr als ein Dutzend Mal pro Tag mussten die Reinemachefrauen nach draußen gehen, um Fingerund Nasenabdrücke von den Fensterscheiben zu wischen, so groß war die Sehnsucht der Passanten, dem Schlaraffenland so nahe wie möglich zu kommen. Kaum jemand, der es sich leisten konnte, dort einzukaufen – und manch einer, der es sich eigentlich nicht leisten konnte –, war standhaft genug, an der Drehtür vorbeizugehen und die ausschwärmenden Wohlgerüche zu ignorieren … Nur ein kurzer Rundgang, eine winzige Kleinigkeit kaufen. Musste das nicht nach einem Tag anstrengender Arbeit erlaubt sein? Eine Ecke Käse. Oder drei handgerollte Trüffel. Oder eine Handvoll der dunkellila glänzenden Pflaumen. Meistens scheiterten solche bescheidenen Vorsätze schon wenige Schritte hinter der Drehtür, wo eine Vielfalt, die weltweit ihresgleichen suchte, darauf wartete, zu betören und zu verführen, und am Ende verließen die meisten das Geschäft mit einer prall gefüllten hellblauen Schraft’s-Tüte.
Obst, Gemüse, Wurst, Käse, fertige Speisen – bei Schraft’s gab es nahezu alles. In der Backwarenabteilung standen Körbe mit Ficelles , den dünnen französischen Weißbrotenaus Sauerteig, neben süditalienischen Biscotti , daneben türmten sich mit Melasse tiefschwarz gefärbte Pumpernickel-Laibe. In der Käseabteilung hatte der Kunde die Wahl zwischen 80 Sorten, eine Ecke weiter konnte er zwischen Blue-Point-, Chesapeake-Bay- und Pine-Island-Austern wählen. Um sich die Entscheidung leichter zu machen, konnte er sich gleich an Ort und Stelle entweder ein halbes Dutzend Austern – nur mit etwas Salz und Zitrone gewürzt – zu Gemüte führen oder eine Portion von Schraft’s unvergleichlichem Oyster Stew genießen. Während die Sinne des Kunden noch damit beschäftigt waren, das Geschmackserlebnis der in Sahne, Butter und Rosmarin geschmorten Austern zu würdigen,
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