Die Amerikanerin
Noch spät am Abend saß Marie an ihrem Arbeitsplatz, dem Bolg. Vor sich hatte sie auf der rechten Seite eine Kiste mit Glasrohlingen und zur Linken das Nagelbrett, auf dem fertig geblasene Kugeln darauf warteten, zu einem der anderen Arbeitsplätze getragen und dort versilbert und bemalt zu werden. Obwohl Marie die Müdigkeit schon in den Knochen steckte, verspürte sie ein leichtes Hochgefühl, während sie sich auf ihre Tätigkeit konzentrierte. Nicht mehr so heftig wie damals, als sie, Marie Steinmann, mit gerade mal siebzehn Jahren den Lauschaer Männern das Privileg des Glasblasens genommen hatte. Aber es war noch da, und es flackerte auch jedes Mal auf, wenn sie beobachtete, mit welcher Selbstverständlichkeit sich inzwischen ihre Nichte Anna an den Bolg setzte und mit sicherem Griff den Gashahn öffnete.
Eine Frau als Glasbläserin? Das war in Lauscha nichts Neues mehr, jetzt hockten sogar in der Kunstglasbläserschule junge Mädchen und Burschen einträchtig nebeneinander. Marie lächelte. Zwanzig Jahre – anderswo nicht mehr als ein mildes Räuspern im belegten Rachen der Zeitschreibung, in Lauscha waren es Lichtjahre.
Zschschsch … – wie altbekannt das Geräusch! »Die Flamme muss singen, wenn das Glas gelingen soll.« Noch heute klangen ihr die Worte ihres Vaters im Ohr. Und wieder einmal fragte sie sich, was wohl Joost zu alldem sagen würde: Sie eine Glasbläserin, Johanna eine Geschäftsfrau, und dazwischen Tausende Kugeln Christbaumschmuck.
Marie reckte sich. Sie drehte die Flamme aus und stand seufzend von ihrem Hocker auf. Es war an der Zeit, zu Bett zu gehen.
Es geschah völlig unvorbereitet. Jemand stülpte ihr plötzlich von hinten etwas über den Kopf. Ihre Nase wurde gestoßen, ihr rechtes Ohr dabei schmerzhaft zusammengedrückt. Sie drehte sich hin und her, doch das Gefühl der Enge blieb.
»Was soll das?«, rief sie erschrocken. Ihre Worte hörten sich seltsam dumpf an, als ob sich ein kleines Kind einen Blechtopf vors Gesicht hielt. Nur, über ihrem Kopf befand sich kein Topf, sondern etwas Gläsernes. Eine riesengroße Käseglocke, durch ihren Atem milchig trübe beschlagen.
Was war das für ein dummer Scherz? Waren die Zwillinge Johannes und Anna mit ihren sechzehn Jahren nicht längst zu erwachsen für solche Neckereien?
Verärgert wollte Marie das Glasding selbst abnehmen, doch ihre Handinnenflächen waren feucht und rutschten immer wieder an der glatten Wandung ab. Sie hatte die perfekte Wölbung einer Kugel und war so warm, als wäre sie eben erst einer Flamme entronnen.
Die Glasfläche warf Maries heißen Atem zurück.
Es war eine Glaskugel! Deren Öffnung, obwohl perfekt abgeschnitten, dort in Maries Fleisch zu schneiden begann, wo ihr Hals in den Oberkörper überging. Vergeblich versuchte sie, zwei Finger in die Öffnung zu bekommen. Wie ein Saugnapf saß die Kugel auf ihr, luftdicht abgeschottet durch die Schwellung der Haut, die sich bereits gegen die eindringende Glaskante zur Wehr setzte.
Panik stieg in Marie auf. Kein Scherz, sondern auf Leben und Tod! Ihr Atem kam nun stoßweise, in kleinen feuchten Wölkchen, die an dem Glas kleben blieben. Die Luft wurde weniger, je mehr sie mit dem Kopf wackelte und die Kugel abzuschütteln versuchte. Ihre Angst schmeckte auf der Zungemetallisch wie ein kupferner Pfennig. Sie wollte ihre Lippen anfeuchten und stellte fest, dass sie keine Spucke mehr hatte.
»Hilfe! Warum helft ihr mir nicht?«, dröhnte ihre Stimme von weit her.
Im nächsten Moment fand sich Marie außerhalb der Glaskugel wieder. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, als sie sich hinter dem Glas entdeckte. Drinnen? Draußen? Sie war immer noch gefangen, ihre Augen hinter dem Glas überdimensional groß wie die eines Frosches. Ihre Wangen, die sich aufbliesen wie die Kiemen eines Fisches. Lachhaft. Pathetisch. Armselig. Schweiß rann ihr über die fahle Stirn und hinunter bis zum Hals, ohne dass ein kalter Tropfen den gläsernen Gefängniswänden entrinnen konnte.
Luft! Sie brauchte Luft zum Atmen. Ein lautes Summen schwirrte um ihren Kopf, wurde noch lauter. Sie wollte sich die Ohren zuhalten und hatte doch wieder nur Glas in der Hand.
Plötzlich ahnte sie, dass sie ersticken würde.
Sie schrie und schrie und schrie …
Im nächsten Moment fand sie sich aufrecht sitzend wieder, ihr Nachthemd von Schweiß getränkt, Magnus’ Arm um ihre Schultern, seine beruhigenden Worte im Ohr.
Ein Traum. Alles war nur ein Traum. Dennoch dauerte es lange, bis
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