Die Amerikanerin
und Finken studiert. Und dass die Struktur von Tannenzapfen nicht für eine jahrzehntelange Interpretation geeignet ist, wundert mich auch nicht – ich persönlich konnte mit Naturbeobachtungen noch nie sehr viel anfangen!«
Marie runzelte die Stirn. Sie wurde nicht gern kritisiert, aber sie kannten sich lange und gut genug, dass der Buchhändler sich darüber hinwegsetzen konnte.
»Was Ihnen fehlt, liebe Marie, ist die Befruchtung durch andere künstlerische Kräfte! Niemand, auch die große Glasbläserin Marie Steinmann nicht« – er zwinkerte ihr zu, um seinen Worten den Spott zu nehmen –, »kann für alle Zeiten nur aus sich selbst schöpfen.«
Einer Eingebung folgend langte er hinter sich und holte von einem der Bücherberge ein schmales, abgegriffenes Bändchen herunter. Es war das Buch, das die Dichterin Else Lasker-Schüler ihrem verstorbenen Freund Peter Hille gewidmet hatte. Schon seit längerem hatte er vorgehabt, Marie an Elses Lyrik heranzuführen. Die Dichterin tat in ihren Gedichten und Geschichten mit ihrer Sprache nämlich genau das, was Marie mit ihrem Arbeitsmaterial anstrebte: es bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu testen und zu verwenden. Nach kurzem Blättern fand er die Stelle, die er gesucht hatte. Dennoch zögerte er. Würde sich Marie – in ihrer verschlossenen Stimmung – die nicht gerade leicht verdauliche, doppeldeutige Symbolik erschließen? In der Vergangenheit hatte sie ihn schon des Öfteren mit ihrem Einfühlungsvermögen für schwierige Texte verblüfft. Also war es einen Versuch wert, beschloss er und reichte ihr das aufgeschlagene Buch.
»Würden Sie so freundlich sein und dies für uns beide vorlesen?«
Unwillig beugte sie sich seinem Wunsch.
»… war ich aus der Stadt geflohen und sank erschöpft vor einem Felsen nieder und rastete einen Tropfen Leben lang, der war tiefer als tausend Jahre …«
Mit geschlossenen Augen lauschte der Buchhändler Maries Stimme, die sich an der eigenwilligen Wortwahl der rebellischen Dichterin rieb.
»… Und eine Stimme riss sich vom Gipfel des Felsens los und rief: ›Was geizt du mit dir!‹ Und ich schlug mein Auge empor und blühte auf, und mich herzte ein Glück, das mich auserlos.«
Maries Sehnsucht und die Poesie der Erzählung begannen von Wort zu Wort zu einem Guss zu verschmelzen. Sawatzkys Herz klopfte heftig und bewegt.
»… Und vom Gestein zur Erde stieg ein Mann mit hartem Bart- und Haupthaar, aber seine Augen waren samtne Hügel …«
Der Buchhändler sah Marie eindringlich an. Würde sie es übertrieben finden, dass Else ihren Freund Peter mit Petrus, dem Felsen verglich? Diese Heroisierung hatte in Intellektuellenkreisen einige Diskussionen ausgelöst, doch Marie las über die Stelle hinweg, ohne einen Kommentar abzugeben.
»… die Nacht hatte meine Wege ausgelöscht, auch konnte ich mich nicht auf meinen Namen besinnen, heulende, hungrige Norde hatten ihn zerrissen. Und der mit dem Felsennamen nannte mich Tino. Und ich küsste den Glanz seiner gemeißelten Hand und ging ihm zur Seite.«
Der Buchhändler hatte seine Augen geschlossen. Als er sie wieder aufschlug, sah er, dass Marie Tränen über die Wangen liefen. Und er wusste, dass er seinen Text richtig gewählt hatte.
»Warum tun Sie mir das an? Warum quälen Sie mich so?« Maries Blick war verzweifelt. Geräuschvoll zog sie die Nase hoch.
»So fühlen zu können! Nicht mehr zu wissen, wo man ist. Wer man ist. … konnte ich mich nicht auf meinen Namen besinnen, heulende, hungrige Norde hatten ihn zerrissen «, wiederholte sie die bewegenden Worte. »Und dennoch zu wissen, dass man auserkoren ist und seine Zeit nicht verschenken darf!« Ihre Augen glänzten. » Ein Glück, das mich auserlos – diese Frau darf sich wirklich glücklich schätzen.«
Marie schwieg für einen Moment. Dann hob sie erneut an:
»Aber was soll das alles mit mir zu tun haben? Ich habe keinen väterlichen Freund – von Ihnen abgesehen –, der mich dermaßen inspiriert. Und ich lebe auch nicht in einer Großstadt, führe kein aufregendes Leben. Wer oder was sollte mich also ›künstlerisch‹ befruchten? Ich sitze in meinem kleinen Dorf, mit Magnus an meiner Seite und mit meiner Familie, die auf mich und meine Entwürfe angewiesen ist.«
»Aber das liegt doch nur an Ihnen«, sagte Sawatzky mit mehr als einem Hauch Ungeduld. Und er konnte nicht umhin, etwas spröde anzufügen: »Auch Else hat sich erst von ihrem Elternhaus frei machen, hat in die Stadt
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