Die Augen der Mrs. Blynn
leichten Neigung zur X-Beinigkeit herrührte. Sie war fünfundvierzig Jahre alt.
Sie hatte nichts Ungewöhnliches an sich, als sie an einem Mittwochnachmittag im Januar im Hotel Waldhaus in Alpenbach eintraf. In Latexhosen, schwarzen Stiefeln mit weißem Pelzbesatz und einer grünen Lodenjacke stand sie am Empfang, um sich einzutragen, und doch – kaum daß sie mit zurückgelegtem Kopf und einem zufriedenen Lächeln des Wiedererkennens im Gesicht einen ersten wohlgefälligen Blick durch die schlichte, grün-weiße Halle 22
schweifen ließ, schien jedermanns Auge von ihr angezogen. Ihr Knoten war halb aufgelöst, und während der Schlittenfahrt vom Bahnhof zum Hotel hatte sich ihr Lippenstift verwischt. Sie hatte feine Krähenfüße unter den Augen und zwei Querfalten auf der Stirn. Sie wirkte nicht annähernd so glamourös wie die meisten Frauen, die im Waldhaus abstiegen, und doch wandten alle – die Pagen (zwei junge Burschen in Lodengrün, die sich erwartungs-voll am Empfang bereithielten), der hochgewachsene Portier im zweireihigen grünen Gehrock mit Silberknöpfen, der Hoteldirektor im Cut und mit Eckenkragen, ja, selbst die beiden Gäste nebst der Gattin des einen, die gerade durch die Halle gingen – einmütig die Köpfe nach Hélène und ließen ihre Blicke auf ihr ruhen.
»Entschuldigung, jetzt hab ich mich verschrieben«, sagte Hélène und lachte. Sie sprach englisch mit Wiener Akzent.
»Madam haben gewiß kalte Hände. Es ist sehr kalt heute.« Der Manager nutzte die Gelegenheit, sein Englisch aufzupolieren, obwohl er wußte, daß sie aus München kam.
Das Hotel und die meisten seiner Gäste sprachen vorzugsweise deutsch, aber Französisch, Italienisch und Englisch oder auch ein Gemisch all dieser Sprachen waren oft zu hören und eher die Regel als die Ausnahme.
Hélène korrigierte den Fehler, der ihr beim Datum unterlaufen war, und folgte dann dem kleinen Pagen, der mit ihrem abgewetzten Antilopeniederkoffer voranging. Während sie im Lift in den dritten Stock hinauffuhren, blickte der Junge immer wieder verstohlen zu ihr hoch. »Habt ihr zur Zeit viele Gäste?« fragte Hélène. Der Junge war kaum älter als ihr Sohn Klaus.
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»Och… es geht«, antwortete der Page. Dann schluckte er und fragte hastig: »Bleiben Sie lange?« Es klang, als hätte er sich damit schon zuviel herausgenommen.
»Ein paar Tage«, sagte Hélène und lächelte ihn an, als sie aus dem Aufzug trat.
Ihr Zimmer war ein großer, quadratischer Raum mit weiß getünchten Wänden, einem grünen Teppich und grü-
nen, rotbestickten Vorhängen. Die Fenster gingen auf einen verschneiten Hang hinaus, auf dem sich ein paar Skiläufer tummelten. Sie gab dem Jungen zehn Schilling Trinkgeld, und er schielte verstohlen nach dem Schein, bevor er die Augen wieder zu Hélène aufschlug. Mit einem gemurmelten Dankeschön entfernte er sich rückwärts aus dem Zimmer.
Hélène hängte ein paar von ihren Sachen auf und bestellte sich eine halbe Flasche Champagner aufs Zimmer.
Während sie in kleinen Schlucken ein Glas davon trank, ruhte ihr Blick auf der wunderbar makellosen Welt vor ihren Fenstern. Sie öffnete eines, stützte sich auf den Sims und bewegte die Zehen in den dicken Wollsocken. Ihre Füße waren wieder warm geworden. Sie war sehr zufrieden mit dem Ort, den sie sich ausgesucht hatte – Alpenbach.
Sie war schon einmal mit ihrem Mann und einem Ehepaar aus Wien hier gewesen, allerdings vor so vielen Jahren, daß sie von dem Dorf nur noch eine verschwommene Vorstellung hatte. Sie erinnerte sich lediglich, daß es recht hübsch war. Und genau das hatte sie gesucht, etwas recht Hübsches, an dem keine besonderen Erinnerungen hingen.
Sie schlüpfte wieder in Stiefel und Walkjanker, setzte eine Skimütze auf und ging spazieren. Die Straße vom 24
Hotel führte hinunter ins Dorf, das knapp einen Kilometer entfernt lag. Hélène zögerte, dann wandte sie sich in die andere Richtung und schlug den Fußweg ein, der bergan führte.
»Guten Tag… Bonjour«, grüßte sie die heimkehrenden Skifahrer zurück, die ihr entgegenkamen.
Sie merkte nicht, daß die Leute sich mit einem »Wer ist das?« nach ihr umdrehten.
Der Wind hatte den körnigen Schnee von den Höhen fortgeblasen und hie und da winzige Blümchen freigelegt, die im Schutz der Felsen wuchsen. Die Mehrzahl hatte kunstvoll geformte blaue Blütenkelche, aber es gab auch rosarote, gelbe und weiße. Zusammengenommen bildeten sie ein Muster, wie in einem Kaleidoskop.
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