Coltan
3
Tarnowski hatte keine Ruhe gefunden in dieser
Nacht. Das unentwegte Hupen unten auf der breiten Straße, die sich am Ufer der
Moskwa entlang zog, hatte ihn immer wieder aus dem leichten Schlummer gerissen.
Ein kalter Schweißfilm bedeckte seine Stirn. Tarnowski griff nach der
Fernbedienung, Nachrichten auf CNN, dann wechselte er die Kanäle im
Sekundentakt. Langsam erhob sich die Sonne über die Sandsteinbrüstung der
Terrasse und mit jedem Zentimeter, den sie höher stieg, schwoll der Verkehrslärm
an. Moskau brüllte seinen Morgengruß in den kobaltblauen Himmel. Und mittendurch
wälzte sich dieser unersättliche Fluss, die Moskwa, erhaben über all den
Schmutz, den sie mit sich trug.
Er sah auf die Uhr, zehn Minuten noch, dann
würde auch der Himmel über Berlin rosa aufleuchten. Der erste Morgen, den sie
nicht mehr erlebt, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte ihr sein Wort
gegeben. Hatte er? Ein Wort mehr oder weniger. An Worten hatte es ihm nie gemangelt.
Vertrauen? Ja, wahrscheinlich hatte sie ihm vertraut, wie so viele andere auch.
Aber konnte er ihr vertrauen? Nein, sagte er sich, ich hab es mir wahrlich
nicht leicht gemacht. Sie hatte ihre Chance, hätte mit der Kleinen nie einfach
so abhauen dürfen. Das war der Moment, als sein ohnehin klein geratener Vorrat
an Vertrauen aufgebraucht war. So ist das Leben! Jetzt wohnte sie als eine
hübsche Erinnerung in seinem Kopf, immerhin, das konnte er nicht von allen
sagen, die sich dort über die Jahre eingenistet hatten. Nicht wenige mahnten
ihn unerwartet und heftig, wenn die Morgendämmerung kam, dass es nur ein kurzer
Schritt vom Heute ins Nichts war.
Die Sonne stand jetzt flach über der Stadt. Tarnowski
saß in seinem dunkelblauen Morgenmantel auf der Bettkante und starrte auf das
dunkle Display seines Handys. Er legte Wert auf Pünktlichkeit. Noch eine
Minute. Sekundengenau begann das Telefon zu vibrieren.
„Ja?“, Tarnowski hielt nichts von zeitraubenden
Begrüßungsfloskeln und erwartete ebenso präzise Antworten.
„Erledigt.“
„Was ist mit der anderen?“
„Ich finde sie.“
„Aber wann? Du suchst schon seit Tagen!
Erfolglos.“
„Sie zweifeln an mir? Zwei, drei Tage. Dann
geht ihr der Stoff aus. Sicher.“ Tarnowski schwieg und holte hörbar tief Luft.
4
Die Luft lag schwer und heiß in den Straßen,
kroch durch die Ritzen der Häuser. Kein kühlender Nachtwind, selbst aus der Dusche
ergoss sich nur noch ein Schwall lauwarmen Wassers.
Ich fühlte die Stoppeln an Kinn und Wangen,
spürte mit den Fingerspitzen die tiefer gewordenen Falten.
Die Nacht hatte weder Schlaf noch Abkühlung
gebracht. Schweißströme lösten Bilderfluten ab. Weder Schnaps noch der Versuch,
die Bilder mit Bildern auszulöschen, brachten die erhoffte Leere, um endlich Schlaf
zu finden. Auch der Porno hatte keine Erleichterung gebracht, und für eine schnelle
Nummer fehlte mir das Geld.
Jetzt vorm Spiegel war sie plötzlich da, die erhoffte,
erbetene Leere. Ich starrte durch mein Spiegelbild hindurch und alles, was ich
wahrnahm, war ein schaler Geschmack im Mund. Die Phasen werden immer länger,
anfangs nur ein, zwei Sekunden, konnte ich schon bald nicht mehr sagen, wie
lange ich so verharrte. Irgendwann wird er da sein, der Morgen, an dem die Verwandlung
vollzogen ist. Dann und wann überkam mich noch die Angst vor jenem Moment und
trieb mir kalten Schweiß auf die Stirn. Was, wenn alles gedacht, erlebt zu sein
scheint und auch die Angst vor der letzten Minute mich verlassen haben würde.
Ich hatte es zugelassen, kraftlos zugesehen,
wie mein Leben langsam an mir vorbeizog, bis ich zur eigenen Rechtfertigung auch
noch die banalste aller Begründungen für akzeptabel hielt: So ist das Leben. Aschgrau,
verhärmt mit Tränensäcken und gefangen in einer bleiernen Müdigkeit.
Sie fehlte mir, jeden Tag und jede Nacht. Keine
Nachricht, kein Anruf, nichts. Vielleicht hatte ich den Rubikon schon
überschritten, die letzte Chance verpasst. Aus der Traum, den ich mit Millionen
teilte, bis es zu spät war.
Nachtgespenster, die regelmäßig nach dem ersten
Kaffee auf dem Balkon verflogen und durch nichts ersetzt wurden, wenn ich
wieder Halt in meiner Zelle fand. Ein Leben auf vier mal fünf Metern, mit
Regalen voller Leitzordner. Fälle aus fünfzehn Jahren. Meine Fälle, die Fälle
von Jonathan Gallert, Kriminalhauptkomissar. Ein Leben gepresst zwischen
schwarzgraue Aktendeckel. Natürlich, ich hätte es schlechter treffen können.
Irgendwas mit Konjunkturflauten,
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