Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
Freiheit des Willens.
Unter anderem ging es dabei um die Frage, ob der Mensch mit all seinen zweifelhaften Naturanlagen, Neigungen und Trieben eine solche Freiheit überhaupt für sich beanspruchen könne. Frank antwortete mit einem entschiedenen Nein. Seiner Meinung nach stand der Charakter eines Menschen unveränderlich fest. Auch die von außen auf einen Menschen einwirkenden Umstände würden von Ursachen bestimmt, die ausnahmslos zwingend eintreten. Getreu der Schopenhauer-Devise: „Alles was geschieht, vom Größten bis zum Kleinsten, geschieht notwendig“. Eine gewagte These, mit der ich mich nicht mal ansatzweise identifizieren konnte.
„Ist dir eigentlich bewusst, dass du dem Menschen in letzter Konsequenz die Verantwortlichkeit für sein Handeln absprichst?“, hatte ich ihn in einer unserer mitunter nächtelangen Diskussionen einmal gefragt.
„Wenn du ernsthaft glaubst, von einer beliebigen Handlung im Nachhinein sagen zu können, du hättest sie auch nicht begehen können, wenn du nur gewollt hättest, bist du schon einem Irrtum aufgesessen, Philip“, war Franks lapidare Antwort gewesen. „Alles gehorcht einer unentrinnbaren Notwendigkeit – vom Salz, das kristallisiert wird, bis zum Menschen, der nicht anders handeln kann, als er handelt. Der einzige Unterschied liegt darin, dass das Salz nicht weiß, dass es kristallisiert wird, während der Mensch die Illusion hat, er hätte diese oder jene Sache auch unterlassen können. Die meisten Dinge sind schon längst geschehen, wenn sie in unser Bewusstsein dringen, und es bringt uns nicht das Geringste, von Ursache zu Ursache zurückblicken. Im Gegenteil. Je mehr wir nach Gründen suchen, desto tiefer ist unsere Verwirrung.“
„Und warum?“, hatte ich nachgehakt.
„Weil das Prinzip des Entstehens und Wachsens metaphysisch ist – also außerhalb unseres Wissens, das sich auf die Welt der Phänomene beschränkt. Deshalb sehen wir nur, was bereits geschehen ist, aber nicht, wie es geschieht. Auch unsere Handlungen sind in dem Moment, wo wir glauben, sie frei zu vollbringen, bereits geschehen – weil unser Wille, determiniert von unserem Nichtwissen, gar nicht anders kann , als sie zu vollbringen.“
Kein Wunder, dass Franks Kommilitonen in ihm so etwas wie einen Überflieger sahen.
Nicht wenige meiner Freunde hielten ihn dagegen für einen der Welt entrückten Dummschwätzer, und ich muss gestehen, dass es Momente gab, in denen ich mich für meinen Mitbewohner regelrecht schämte. Momente, in denen mir sein Schwelgen in metaphysischen Sphären peinlich war. Manchmal ertappte ich mich selbst dabei, Verabredungen mit Freunden auf Zeiten zu legen, in denen Frank sich nicht in unserer Wohnung aufhielt. Im Stillen verfluchte ich mich für meine Feigheit, einen Menschen zu verleugnen, den ich für faszinierend und liebenswert hielt.
Das erste Mal über den Weg gelaufen waren wir uns auf einer Erstsemesterfete vor gut drei Jahren. Ich musste eine Rede halten - von wegen AStA und so. Später, als ich mir an der Theke ein Bier holen wollte, stand Frank neben mir und fragte, ob ich nie Cicero oder andere antike Redner gelesen hätte. Einen rhetorisch unbegabteren Menschen habe er zuletzt auf dem Richtfest seiner Eltern reden hören. Ich stand kurz davor, ihn vor die Tür zu bitten - was die Erstis wohl kaum für unsere Hochschularbeit begeistert hätte. Stattdessen zischte ich nur, er solle sich verpissen. Frank lachte und sagte: „Siehst du, das meine ich. Du solltest dir einen etwas weniger derben Wortschatz zulegen.“ Ich weiß nicht, wieso, aber irgendwie waren wir uns sympathisch. Den Rest des Abends quatschten wir über Gott und die Welt, zogen noch ein wenig um die Häuser und kippten uns ordentlich einen hinter die Binde. Als ich am nächsten Morgen wach wurde, lag ich auf einem mir fremden Sofa in einem mir fremden Zimmer und schielte aus dem Fenster auf mir fremde Bäume. Vorletzten Sommer suchte Frank nach einer neuen Wohnung, und da ich mit meinem eigenen kleinen Zimmer im Wohnheim auch nicht mehr glücklich war, machten wir Nägel mit Köpfen. Eigentlich hatte ich mit der Vorstellung geliebäugelt, bei Eva einzuziehen, aber sie war dagegen. „Ich brauche meine Freiheit“ - so was in der Art. Frank und ich waren ein gutes Team. Er hatte keine Ahnung von Hochschulpolitik, ich war eine Niete in Philosophie und beide verabscheuten wir Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen. Unsere anstrengendste körperliche Betätigung war die
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