Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
geschlafen. Da ist nichts gelaufen. Melde dich bitte bei mir.“
Langer Piepton.
Ich stellte Teller und Besteck in die Spüle, nahm das Foto vom Tisch, griff nach Hammer und Nägeln und ging in mein Zimmer, wo ich nach einer geeigneten Stelle über meinem Schreibtisch suchte. Wie erwartet, ging der erste Hammerschlag in die Hose. Na fabelhaft, dachte ich, du bist der Sohn eines Handwerkers und kannst nicht mal einen Nagel in die Wand hauen. Ich zog das krumme Etwas wieder raus und griff nach dem zweiten Nagel. Diesmal hatte ich mehr Erfolg. Dass einer der Schläge auf meinem Daumen landete, konnte ich verkraften. Ich hängte das Bild an die Wand, betrachtete es einen Moment, machte dann kehrt und kramte das Telefonbuch aus der Kommode im Flur. Die Rezeption des Hotels Mauritzhof stellte den Anruf durch. Nach dem zweiten Klingeln ertönte die sonore Stimme von Franks Vater.
„Laurenz!“
„Philip Kramer. Hallo Bernhard.“
„Gott sei Dank, Philip, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Wie geht es dir? Wo bist du?“
„In unserer Wohnung.“ Ich verkniff mir eine Schilderung der makabren Reinigungsaktion in Franks Zimmer.
„Bist du nachher zuhause?“, fragte Bernhard. „Dann komm ich auf ein Stündchen rüber. Ein bisschen Reden wird uns gut tun.“
„Was ist mit Annette?“ Die Aussicht, den Nachmittag mit Franks in Tränen aufgelöster Mutter verbringen zu müssen, bereitete mir Unbehagen. „Kommt sie nicht mit?“
„Sie will sich noch ein wenig hinlegen. Mein Schwager Uwe kommt nachher ins Hotel. Franks Patenonkel.“
Suchte Bernhard wirklich nur Trost bei mir oder wollte er nicht vielmehr in Wahrheit vor der Familientrauer fliehen?
„Wie wäre es mit einem Spaziergang?“, schlug ich vor. „Frische Luft könnte ich jetzt gut gebrauchen. Soll ich dich im Hotel abholen? So in einer halben Stunde?“
„Gut, Philip. Bis gleich dann.“
Franks Vater war ein Bär von einem Mann, der die Sonne zu verdunkeln schien, wenn er sich näherte. Er mochte Ende fünfzig sein, und doch ging noch immer eine schier unbändige Kraft von ihm aus. Als wir die Promenade, die Münsters Innenstadt ringförmig umschließt, entlangschlenderten, konnte ich nur staunen, wie offen er über sein seelisches Befinden redete, Anekdoten aus dem Familienleben erzählte, und dabei mit jedem Satz zu erkennen gab, wie stolz ihn die Entwicklung seines Sohnes gemacht hatte. Wäre der Anlass unseres Spaziergangs nicht ein derart tragischer gewesen, es hätte ein idyllischer Tag sein können, inmitten all der herumtollenden Hunde und ballspielenden Kinder, die auf den Wiesen am Hörstertor das schöne Wetter genossen.
Auch Bernhard Laurenz hatte an der Wilhelms-Uni studiert. Jura. Nach einigen Jahren in einer Münsteraner Kanzlei erhielt er Mitte der Neunziger ein hoch dotiertes Angebot vom Bertelsmann-Konzern und zog mit seiner Familie, Frank war damals neun Jahre alt, nach Gütersloh.
Ich wusste, dass das intakte Vater-Sohn-Verhältnis auf Gegenseitigkeit beruhte. Frank hatte seinen Vater geradezu vergöttert und jedes freie Wochenende, soweit es sein Studium erlaubte, im Haus seiner Eltern verbracht. Ein paar Mal bin ich mitgefahren. Vor allem im Sommer, um mich vom Einmeterbrett in den himmlischen Kälteschock des Pools zu stürzen, Chlor zu schmecken, frisch gemähtes Gras und Holzkohle zu riechen. Im Gegenzug hatten Franks Eltern jede sich bietende Gelegenheit, wie Geburtstage von Münsteraner Verwandten, Theaterbesuche oder juristische Kongresse, als willkommenen Anlass genommen, einen Abstecher in die ‚Studentenbude‘, wie sie unsere Wohnung bezeichneten, zu machen.
Mit einem Gefühl von Wehmut dachte ich an meine eigene Familie. Vaters Krebstod lag jetzt fünf Jahre zurück. Meine Mutter wohnte bei ihrem neuen Lebensgefährten in Ulm, meine Schwester Barbara war schon vor Jahren mit Kind und Kegel in die Eifel gezogen. Selbst letztes Jahr zu Weihnachten hatte ich keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Der komplette Familienclan war nach Lanzarote geflogen, wo Günther, Mamas Neuer, ein Ferienhaus besaß. Mich hatten sie nicht mal gefragt. Ich hätte eh dankend abgelehnt. Abgesehen von meinen zwei kleinen Neffen, konnte mir die ganze Sippe gestohlen bleiben.
„Woher wusstet ihr, dass Frank Drogen genommen hat?“, fragte ich. „Mir hat er das nie gesagt.“
Noch immer machte es mir schwer zu schaffen, Franks Probleme nicht bemerkt zu haben. Aus Zeitvertreib hätte er dieses Zeug niemals angerührt.
„Das ist
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