Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
Zweifel, ob ich nicht drauf und dran war, das Gesicht zu verlieren. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, kehrtzumachen und einfach abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Aber wäre das wirklich die bessere Alternative?
Ich wusste keine Antwort.
Um ein wenig Zeit zu gewinnen, entschied ich mich, zumindest noch einen kleinen Umweg zu machen. Ich spazierte rechterhand am Dom vorbei, setzte mich vor die Eisdiele an der Überwasserkirche und trank einen Espresso. Nach einer halben Stunde hatte ich mich entschieden.
Es war ein Gang nach Canossa. Schmachvoll. Erniedrigend. Der ach wie große Philip Kramer schickte sich an, Abbitte zu leisten. Ich lief durch die schmale Gasse rechts vom Fürstenberghaus, stieg die Wendeltreppe des Elfenbeinturms, wie die Studenten den zum Parkplatz liegenden Gebäudeteil nennen, zu Professor Beekmanns Büro im zweiten Stock hinauf, trat aus dem Treppenhaus und sah mich um. Neben einer der Türen stand auf einem weißen Schildchen der Name des Dekans geschrieben.
Ich klopfte.
Nichts.
Auf einem der gläsernen Beistelltische lagen einige Ausgaben der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Ich setzte mich auf einen Stuhl, nahm ein Exemplar in die Hand, blätterte ein paar Minuten in den Seiten, warf die Zeitschrift dann aber zurück auf den Tisch. Ich konnte mich nicht konzentrieren.
Das Gerücht, Beekmann habe bei den diesjährigen AStA-Wahlen hinter den Kulissen versucht, mir die Wiederwahl zu verderben, fiel mir wieder ein. So hatte er unter anderem dafür gesorgt, dass mit Carsten Bruns ein ernstzunehmender Gegenkandidat aufgestellt wurde. Beekmanns Ränkespielen zum Trotz gewann ich die Wahl im ersten Durchgang.
Ich hatte nie verstanden, warum Beekmann keine Ambitionen zeigte, Kanzler oder gar Rektor der Wilhelms-Universität zu werden. Er musste sich in der Rolle des Schattenmanns pudelwohl fühlen, war es doch ein offenes Geheimnis, dass er ein gewichtiges Wort beim Haushalt mitsprach, diverse Gremien kontrollierte und über den ein oder anderen Kontakt zum Bildungsministerium verfügte. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass nicht ein einziger Federstrich geführt werden konnte, ohne dass man Walter Beekmann zuvor angehört hatte. Irgendwie wusste niemand so recht, wie es überhaupt zu einer solchen Machtkonzentration kommen konnte. Angeblich war es bereits bei Beekmanns Ernennung zum Dekan nicht mit rechten Dingen zugegangen. Er musste schon damals die richtigen Leute in den richtigen Positionen gekannt haben, und es wurde gemunkelt, dass ihm auch heute noch so ziemlich jeder, der an der Uni etwas zu sagen hatte, einen Gefallen schuldig war.
Vor zwei Jahren hatte ich die Leitung der Uni in einer Podiumsdiskussion einmal als Marionettenregime, das an Beekmanns Strippen hängt, tituliert. Eine Provokation, die Beekmann mir bis heute nicht verziehen hatte – zumal eine wenig schmeichelhafte Karikatur von ihm das nächste Cover des „Semesterspiegels“, der hiesigen Unizeitung, als Aufmacher zierte. Überschrieben mit: „Der Puppenspieler von Mexiko“. Seit jenen Tagen warf Beekmann mir und dem AStA Knüppel zwischen die Beine, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot.
Auch Frank hatte Beekmann nicht ausstehen können. Er wollte bei seiner Dissertation von Jan Lohoff betreut werden, was laut Hochschulstatuten aber nicht möglich war, da Lohoff die erforderliche Habilitation fehlte. Um formell den Schein zu wahren, hatte Beekmann sich bereit erklärt, quasi als „Alibi-Doktorvater“ zu fungieren. Doch mit der Zeit musste Frank erkennen, dass Beekmann sich im Gegenzug das Recht herausnahm, massiv Einfluss auf seine Arbeit zu nehmen. Als Frank und Jan Lohoff sich irgendwann darüber beklagten, hatte Beekmann unmissverständlich klargestellt, wer in dieser Angelegenheit am längeren Hebel saß. Ich fragte mich, wie Jan Lohoff wohl mit den turbulenten Ereignissen der letzten Tage umgehen mochte. Der junge Philosophiedozent und Frank hatten ein beinahe schon freundschaftliches Verhältnis zueinander aufgebaut, und Frank sprach von seinem Mentor stets voller Bewunderung und Ehrfurcht. Vielleicht sollte ich, wenn ich eh schon im Philosophischen Seminar war, auch auf ein paar Worte bei Lohoff vorbeischauen.
Aus Beekmanns Büro drang klassische Musik. Martialisch und pompös. Wagner, wenn ich mich nicht täuschte. Jede Wette, dass er mich vom Fenster aus kommen sehen und mein Klopfen geflissentlich ignoriert hatte.
Ohne ein weiteres Mal anzuklopfen,
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