Die Ausgelieferten
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D ie Geschichte hört sich, kurz zusammengefasst, so an.
Während der ersten beiden Wochen des Mai 1945 kamen viele deutsche Soldaten nach Schweden, vor allem aus dem Osten, da sie unter keinen Umständen gewillt waren, sich den Russen als Kriegsgefangene zu ergeben. Sie kamen aus den baltischen Staaten, vor allem aus dem Kurlandkessel in Lettland, aber auch aus Danzig: etwa dreitausend Soldaten. Sie wurden sofort interniert. Unter ihnen befand sich eine geringere Anzahl Balten, die teils freiwillig in die deutsche Wehrmacht eingetreten, teils zwangsrekrutiert worden waren.
Die baltischen Legionäre flüchteten auf zwei Routen: von Kurland an die Ostküste Gotlands und von Danzig über Bornholm nach Ystad. Ein einziger Soldat kam mit einem Flugzeug. Er landete in der Gegend von Malmö und beging acht Monate später auf der Pier in Trelleborg Selbstmord. Insgesamt waren es hundertsiebenundsechzig Mann, sieben Esten, elf Litauer und hundertneunundvierzig Letten. Alle trugen deutsche Uniform.
In Gotland wurden die Soldaten in einem Lager nahe bei Havdhem interniert; Anfang Oktober brachte man sie über Rinkaby in ein Sammellager in Ränneslätt bei Eksjö. Das Ystad-Kontingent verlegte man zunächst nach Bökeberg, zwei Wochen später ebenfalls nach Ränneslätt. Im November teilte die Regierung mit, dass alle an die Russen ausgeliefert werden sollten. Die Internierten lehnten sich dagegen auf, durch Hungerstreiks, ja durch Selbstmorde. Der Protest verzögerte die Auslieferung bis in den Januar 1946 hinein. Am 25. Januar 1946 wurden die baltischen Legionäre an die Sowjetunion ausgeliefert. Die Gruppe war bis zu diesem Zeitpunkt auf hundertsechsundvierzig Mann zusammengeschmolzen. Das Schiff, mit dem sie abtransportiert wurden, hieß »Beloostrov«. Einundzwanzig Mann, die man nicht auslieferte, waren entweder tot, schwer verwundet, krank oder nicht transportfähig; ein paar ließ man auch aus anderen Gründen frei.
Die Zeit in Schweden umfasst insgesamt acht Monate. Das ist, kurz skizziert, die ganze Geschichte.
Die Lage, die man vorab mit dem Begriff »Auslieferung der Balten« umreißen kann, hat jedoch ihren Ursprung nicht im Mai 1945, sondern weit früher. Die Lage spitzt sich aber im Herbst 1945 rasch zu, erreicht im November einen Höhepunkt, einen weiteren im Januar 1946. Aber auch dieser Zeitpunkt bedeutet nicht das Ende, denn noch heute leben die Ereignisse fort und verändern sich. Die Situation kann nicht in ihrer Gesamtheit beschrieben werden, man kann sie nicht objektiv behandeln, vielleicht aber doch sachlich; jede neue Betrachtungsweise verändert die Dinge. Dieses Buch behandelt einen Ausschnitt des Komplexes »Auslieferung der Balten«, den Zeitabschnitt von 1945 bis 1948.
Am 5. Mai 1945 kamen die ersten nach Gotland, die meisten aber erst einige Tage später. Nach Katthammarsvik kamen sie in der Nacht zum 9. Mai mit einem sechs Meter langen Seelenverkäufer von Fischerboot; sie erreichten den kleinen Hafen zur gleichen Zeit, als eine zweite Gruppe einen Kilometer weiter südlich landete. Die beiden Boote trafen fast zur gleichen Zeit ein, spätabends, der Hafen war menschenleer. Der Motor wurde abgestellt, und das Boot glitt lautlos auf den Kai zu. Eine Glühlampe war die einzige Lichtquelle des Hafens, sie erleuchtete einen Teil des Geländes. In ihrem Lichtschein sahen die Männer in dem Boot Schatten von Häusern und hier und da ein erleuchtetes Fenster. Zwanzig Jahre später sind ihre Erinnerungen an diese Nacht vage und unbestimmt. Nur undeutliche Eindrücke sind ihnen in Erinnerung geblieben. »Wir waren müde.« »Es war eine Art Hafen, eine kleine Ortschaft.« »Es war spätabends; ein paar schwedische Soldaten kamen auf die Pier.«
Aus dem anderen Blickwinkel, dem schwedischen, stellen sich die Dinge etwas klarer dar. Das Boot lag jetzt still an der Pier. An Deck konnte man dunkle Gestalten erkennen, sie trugen Uniform. Deutsche Uniformen. Von Waffen war nichts zu sehen. Auf dem Kai standen ein paar Menschen, einige riefen etwas auf Deutsch. Es kamen Antworten. Das Boot lag tief im Wasser, es schien schwer beschädigt zu sein. Nach einer Viertelstunde kamen die schwedischen Soldaten. Der erste stellte sein Fahrrad ab, ging an die Kaimauer, betrachtete das Fischerboot, sah die Menschen in den Uniformen, zögerte eine Sekunde und rief dann mit lauter Stimme: »Halt!« Hinter sich hörte er ein schwaches Kichern, er drehte sich unentschlossen um und sah die anderen kommen.
Man begann,
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