Die Ausgelieferten
Schlepper vor zwei Tagen in Ventspils gefunden, jetzt hatte er seine Rolle für immer ausgespielt.
Beim Zählen der Soldaten von dem Wrack kam man auf genau hundertfünfzig Mann. Ursprünglich waren mehr an Bord gewesen; einer der Offiziere gab an, dass man am Tag zuvor dreiunddreißig Tote der See übergeben hatte. »Es ist möglich, dass auch ein paar Verwundete unter ihnen waren.«
Auf die Frage, warum das geschehen sei, gab er an, der Wind sei sehr heftig gewesen, der Prahm habe tief im Wasser gelegen, unaufhörlich seien Brecher über die Boote geschlagen, und außerdem habe man quer zum Wind fahren müssen.
Die Windstärke an der Ostküste Gotlands schwankte zwischen drei und fünf (nach der Beaufort’schen Windskala). Der Wind kam aus Nord bis Nordost.
Acht der Soldaten erklärten, lettische Staatsbürger zu sein. Vier von ihnen waren Offiziere, vier waren junge Männer im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren.
Die Geschichte der jungen Männer lässt sich am leichtesten wiedergeben.
Im August 1944 wurden sie zwangsweise zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Sie brauchten nicht an der Front zu kämpfen, weil sie erst sechzehn Jahre alt und nicht ausgebildet waren, kaum mit Waffen umgehen konnten. Sie taten hinter der Front bei der Luftwaffe Dienst.
Im März 1945 kamen sie an die Küste, nach Ventspils. Es herrschte vollständiges Chaos, alles befand sich in Auflösung, der Kurland-Kessel wurde immer heftiger bedrängt und immer mehr eingedrückt. Alle Rückzugswege zu Lande nach Westen waren seit Monaten abgeschnitten, alle Häfen voll mit Fischerbooten, Schmutz, gesunkenen Schiffen, Flüchtlingsgepäck, Flüchtlingen. Viele Letten hatten allen Anlass zu fliehen, auch Zivilisten, da sie während der Besatzungszeit sehr eng mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten. Viele flohen auch ohne besondere Gründe, und alle fürchteten sich vor den Russen. Von den Uniformierten versuchten die meisten zu fliehen, was einigen auch gelang.
Für die Sechzehnjährigen, die zwangsrekrutiert worden waren, gab es mehrere Möglichkeiten. Einigen von ihnen schien die Flucht in die Wälder die beste Lösung. Der deutsche Propaganda-Apparat hatte bis in die letzte Zeit hinein sehr effektiv gearbeitet, alle Meldungen waren sehr vertrauenerweckend gewesen. Es hieß, der deutsche Rückzug sei nur vorübergehend. Die Deutschen würden wiederkommen.
Am 8. Mai, um die Mittagszeit, erfuhren sie, dass die Deutschen kapituliert hatten. Diese Nachricht war ein Schock, weil die Rückkehr der Deutschen trotz allem als wahrscheinlich gegolten hatte. Jetzt verschwand sie wie im Nebel. Statt dessen nahm nun ein anderer Nebel Gestalt an: die Russen waren nur noch einige Stunden entfernt.
Sie gingen zum Hafen hinunter. Er war jetzt fast leer, nur noch ein Schiff lag dort vertäut: ein Schlepper, offensichtlich ein ehemaliges Fischerboot, das man umgebaut hatte. Er hieß »Gulbis«. Aus dem Schornstein stieg schwacher Rauch auf, das Hafenbecken war voller Unrat, ein versenktes Schiff reckte den Bug in die Höhe, Bretter, Ölfässer, tote Vögel schwammen im Wasser, an der Oberfläche trieb ein Mann mit dem Gesicht nach unten: über allem lag ein unwirklicher Friede. Die »Gulbis« lag an einem halbzerschossenen Kai. Deutsche Soldaten gingen an Bord, wie es schien, ohne jede Eile. Es gab keine Wahl mehr. Die Jungen stellten sich in die Schlange der Wartenden, auch sie gingen an Bord, sie waren die letzten. Sie trugen deutsche Uniformen und deutsche Waffen. Zwei Stunden später lief das Boot aus.
Der Schlepper verließ Ventspils am 8. Mai 1945 um 20 Uhr. Als sie die offene See gewonnen hatten, sahen sie, dass sie nicht allein waren. Sie waren die letzten, aber sie waren nicht allein. Vor sich entdeckten sie eine lange Reihe von Schiffen und Booten, die alle nach Südwesten, nach Deutschland steuerten, die meisten sehr klein, aber sie sahen auch einen sehr großen Passagierdampfer. Es mussten etwa fünfzig Schiffe sein, vielleicht noch mehr. Sie saßen an Deck. Die Umrisse der anderen Schiffe wurden immer undeutlicher, während die Dämmerung sich allmählich über die Küste Lettlands legte, die man bald nicht mehr sehen konnte. Dann brach schnell die Dunkelheit herein, sie fuhren in aufkommenden Nebel, von See her war nichts mehr zu hören. In der Nacht hatten sie einen Motorschaden, der sich allerdings nach kurzer Zeit beheben ließ.
Als der Morgen kam, sahen sie von den anderen Schiffen nichts mehr. Gegen 9 Uhr hörten sie plötzlich
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