Die Ausgelieferten
heftige Detonationen und sahen im Süden Rauch und Feuerschein. Eine Stunde später entdeckten sie am Horizont ein russisches Kriegsschiff, das nördlichen Kurs steuerte, offenbar ein Torpedoboot. Die Besatzung des Schleppers stoppte die Motoren, dann lag das Boot still. Das Torpedoboot verschwand jedoch wieder, ohne dass man vom Schlepper Notiz genommen hatte.
Am Nachmittag, 15 Uhr, sahen sie das nächste Schiff: ein großer Prahm, der hilflos auf den Wellen trieb. Er hatte offensichtlich Maschinenschaden. Immer wieder schlugen Brecher über die Reling auf das Deck. An Bord deutsche Soldaten, es mögen etwa fünfzig gewesen sein. Außerdem waren da noch Verwundete. Der Prahm, von russischen Marinesoldaten angegriffen, hatte schwere Treffer erhalten. Viele der Flüchtlinge waren getötet worden. Die Russen hatten sich jedoch nach der Attacke anderen Zielen zugewandt und sich nicht mehr um sie gekümmert.
Die Schlepper-Besatzung warf ein Tau zum Prahm hinüber und nahm ihn ins Schlepp. Danach wurde der Kurs geändert: nach Gotland. Der Backbord-Motor des Prahms funktionierte noch, wenngleich unbefriedigend, und lief weiter; eine Stunde bevor Gotland in Sicht kam, fiel auch er aus. Nach und nach wurde der Seegang immer heftiger, der schwerbeladene Prahm, der tief im Wasser lag, bekam immer stärkere Schlagseite. Vom Schlepper aus war zu sehen, wie die Besatzung des Prahms in gleichmäßigen Zeitabständen Körper an die Reling trug und sie ins Wasser warf.
Um 20 Uhr kam die schwedische Küste in Sicht. Die Flüchtlinge sahen einen Leuchtturm und steuerten auf ihn zu. Gegen 23 Uhr hatte man ihn fast erreicht, als der Schlepper auf Grund geriet. Es war später Abend, es stürmte, die Wogen brachen über die Boote herein, die Männer froren erbärmlich. Nachdem der Schlepper auf Grund gelaufen war, zündete man das Notsignal.
Diese Soldaten waren nicht die ersten, die sich nach Gotland geflüchtet hatten. Vor ihnen waren Zivilisten nach Schweden gekommen.
Über den Strom ziviler baltischer Flüchtlinge nach Gotland während des letzten Kriegsjahrs gibt es viele ausgezeichnete und wahre Berichte: es ist von kleinen Flotten kleinerer Boote und Schiffe die Rede, von dem »Reederei-Betrieb der evangelischen Kirche«, von privaten Flotten also, die von schwedischer Seite finanziert wurden, von Zetteln mit detaillierten Angaben über Zeit und Position, die von geheimnisvollen, anonymen Hintermännern stammen, von Berichten über Begleitschiffe der schwedischen Kriegsmarine, die vor Gotland kreuzten und die kleinen Schiffe mit Treibstoff versorgten, von dreißigtausend Flüchtlingen, die teils selbst mit kleinen Booten flohen, teils von Schweden herübergebracht wurden. Einige der Flüchtlinge waren Nazis, ein paar Erzkonservative befanden sich unter ihnen, ein paar hatten auch mit den Deutschen zusammengearbeitet; viele fürchteten sich einfach nur vor den Russen. Einige gewiss mit gutem Grund, andere weniger; viele Intellektuelle waren darunter, die meisten aber waren einfache Arbeiter. Für einige gab es nur noch die Flucht, die meisten flohen ohne bestimmten Anlass. Die beste aller Geschichten, auch sie beruht auf Wahrheit, weiß davon zu berichten, wie die schwedische Kirche und die schwedische Marine im Herbst 1944 in guter Zusammenarbeit insgesamt siebenhundert Flüchtlinge im Lauf von vierzehn Tagen herüberholten. Die Einzelheiten wurden dem Untersucher unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt und können folglich nicht wiedergegeben werden.
Immerhin: man brachte die Flüchtlinge nach Schweden. Sie sind insofern ein Teil des ganzen Komplexes, als es 1945 in Schweden insgesamt etwa dreißigtausend Balten gab. Sie lebten also in Freiheit und konnten ihren Einfluss geltend machen. Als im Mai 1945 das letzte Rinnsal von Flüchtlingen nach Schweden kam, waren diese folglich nicht die ersten.
Sie fuhren in kleinen Booten und landeten entlang der gesamten Küste Gotlands, die meisten von ihnen Deutsche. Am 11. Mai 1945 um 8 Uhr morgens hatte man auf Gotland 542 deutsche Soldaten registriert. Unter ihnen befand sich eine »kleinere Anzahl« Soldaten aus dem Baltikum.
Man brachte sie in das Internierungslager in Havdhem auf Gotland. Die Behandlung war ausgezeichnet. »Die schwedischen Offiziere waren sehr freundlich, einige konnten deutsch sprechen, sie verpflegten uns und versprachen, uns bald in die britische Besatzungszone zu schicken.« Man »unterhielt sich angeregt« mit den schwedischen Offizieren. Die
Weitere Kostenlose Bücher