Die Beschenkte
den Schlamm vom Gesicht und winkte Katsa zu sich. »Komm her, Wildkatze! Du bist die Nächste.«
Katsa stützte sich auf ihr Schwert und lachte. »Du hast eine halbe Stunde gebraucht, um deinen Bruder niederzuringen, und da glaubst du, dass du für mich bereit bist?«
»Komm in den Schlamm zu mir. Ich werde dich auf den Rücken legen wie einen Käfer.«
Katsa wandte sich wieder der Übung zu, die sie Bitterbluebeibrachte. »Wenn du Skye mit Leichtigkeit schlagen kannst, dann werde ich mit dir schlammringen.«
Sie versuchte streng zu klingen, konnte ihre Freude aber genauso wenig verbergen wie Bo. Er tröstete seinen armen, stöhnenden Bruder, der von seinem Platz am Boden den Anfang vom Ende kommen sah.
Katsa stellte fest, dass sich Bo als Gegner sehr verändert hatte – weniger wegen seiner verlorenen Sehkraft, mehr wegen der Sensibilität, die er mit seiner wachsenden Gabe gewonnen hatte. Wenn sie jetzt kämpften, spürte er nicht nur ihren Körper und ihre Absichten, er fühlte auch die Kraft ihrer Schläge, bevor sie ihn trafen, die Richtung ihres Schwungs, ihr Gleichgewicht, ihr Ungleichgewicht und wie er es nutzen konnte. Er war noch nicht wieder im Besitz seiner ganzen Kraft und manchmal trog ihn sein eigenes Gleichgewicht. Doch es kam vor, dass er Katsa überraschend traf, und daran waren sie beide nicht gewöhnt.
Er würde wieder so gut kämpfen wie zuvor, vielleicht besser. Und das war wichtig. Die Kämpfe machten Bo glücklich.
Nicht lange nach dem Frühlingsanfang brach Bitterblue auf. Skye folgte ihr etwas später, sein Vater hatte ihn nach Leck City gerufen, damit er bei der bevorstehenden Krönung half. Und schließlich unternahmen Katsa und Bo selbst die Reise in die Stadt, die bald Bitterblues Namen tragen würde. Bo überstand die Reise gut, ein wenig wie ein Kind, das nie zuvor gereist ist und jede neue Erfahrung faszinierend, wenn auch etwas überwältigend findet. Und tatsächlich war Bo ja wie ein Kind, wenn es darum ging, mit seiner neuen Wahrnehmung der Welt unterwegs zu sein.
In ihrem gemeinsamen Zimmer in Bitterblues Schloss zwang sich Katsa, ein Kleid anzuziehen. Bo lag auf dem Bett und grinste immerzu an die Decke.
»Worüber grinst du?«, fragte Katsa zum dritten oder vierten Mal. »Fällt mir die Decke vielleicht gleich auf den Kopf? Du siehst aus, als würde gleich etwas Komisches passieren.«
»Katsa, nur du würdest eine einstürzende Decke komisch finden.«
Da wurde an ihre Tür geklopft, und Bo fing an, in sich hineinzulachen.
»Du hast Apfelmost getrunken«, beschuldigte ihn Katsa auf dem Weg zur Tür. »Du bist betrunken.«
Und dann riss sie die Tür auf und setzte sich vor Erstaunen fast auf den Boden, denn vor ihr im Gang stand Raffin.
Er war voller Schlamm und roch nach Pferd. »Sind wir rechtzeitig zum Essen?«, fragte er. »In der Einladung stand etwas von Pastete und ich bin am Verhungern.«
Katsa fing an zu lachen und dann zu weinen, und sobald sie angefangen hatte, ihn zu umarmen, konnte sie damit nicht mehr aufhören. Und hinter Raffin stand Bann, hinter Bann stand Oll, und Katsa umarmte weinend auch sie. »Ihr habt uns gar nicht gesagt, dass ihr kommt«, sagte sie immer wieder. »Ihr habt uns gar nicht gesagt, dass ihr kommt. Niemand hat mir gesagt, dass ihr eingeladen seid.«
»Du bist die Richtige, von Auskünften zu reden!«, sagte Raffin. »Monatelang hatten wir keinerlei Nachricht von dir – bis eines Tages Bos Bruder an unseren Hof kam und die wildeste Geschichte erzählte, die wir je gehört hatten.«
Katsa schniefte und schlang die Arme wieder um ihrenCousin. »Aber du verstehst das, oder?«, sagte sie an seiner Brust. »Wir wollten nicht, dass ihr hineingezogen werdet.«
Raffin küsste sie auf den Kopf. »Natürlich verstehen wir das.«
»Ist Randa bei euch?«
»Er hatte keine Lust zu kommen.«
»Wie läuft es im Rat?«
»Er kommt gut voran. Aber müssen wir hier stehen und den Gang verstopfen? Dass wir am Verhungern sind, war kein Witz. Du siehst gut aus, Bo.« Raffin begutachtete zweifelnd Katsas kurzes Haar. »Helda schickt dir eine Haarbürste, Kat – genau, was du brauchst.«
»Ich weiß es zu schätzen. Jetzt kommt herein.«
Wie jedes Ereignis, das festliche Kleidung erfordert, war die Krönungszeremonie langweilig, doch Bitterblue ertrug sie mit angemessener Ernsthaftigkeit und Würde. Der Rand ihrer prächtigen goldenen Krone war mit dickem purpurrotem Stoff gepolstert, damit sie ihr nicht auf die Nase hinunterrutschte.
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