Die Beschenkte
Verhalten sah, wenn sie allein waren und er aufhörte, etwas vorzutäuschen. Seinem Bruder und seiner Cousine spielte er Kraft, Gelassenheit und Gesundheit vor. Seine Schultern waren gerade, sein Gang sicher. Wenn er seine Traurigkeit nicht verbergen konnte, tat er, als hätte er seine Launen. Wenn er die Energie nicht aufbrachte, die Augen auf ihre Gesichter zu richten, alskönnte er sie sehen, täuschte er Unaufmerksamkeit vor. Er war stark, heiter – manchmal merkwürdig zerstreut, doch er erholte sich gut von seinen Verletzungen. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel – und meistens schien es die anderen zu befriedigen. Wenigstens so weit, dass sie nie Grund hatten, seine wahre Gabe zu ahnen, und das war schließlich, was er vor allen zu verbergen suchte.
Wenn er und Katsa allein waren, jagten, Wasser holten oder in der Hütte zusammensaßen, fiel seine Maske ab. An seinem Gesicht, seinem Körper, seiner Stimme war Erschöpfung abzulesen. Gelegentlich streckte er die Hand nach einem Baum oder einem Fels aus, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Augen konzentrierten sich oder schienen sich zu konzentrieren – auf nichts, immer auf nichts. Und Katsa begann zu verstehen, dass ein Teil seines kläglichen Zustands zwar auf seine Traurigkeit zurückzuführen war, der größere Teil aber von seiner Gabe kam. Denn er wuchs immer noch in seine Gabe hinein, und jetzt, wo er seine Wahrnehmung der Welt nicht mehr an seiner Sehkraft verankern konnte, wurde er immer wieder davon überwältigt.
Eines Tages am See, in einer der seltenen Pausen zwischen zwei Schneeschauern, sah Katsa, wie Bo ruhig einen Pfeil auf seinen Bogen legte und auf etwas zielte, das sie nicht sehen konnte. Ein Felsvorsprung? Ein Baumstumpf? Er neigte den Kopf, als würde er auf etwas lauschen. Dann schoss er den Pfeil ab, der durch die kalte Luft sirrte und sich in einen Schneehaufen bohrte. »Was …«, fing Katsa an und brach ab, als ein Blutfleck an die Oberfläche drang und den Schnee rund um den Pfeilschaft färbte.
»Ein Kaninchen«, sagte er. »Ein großes.«
Er wollte zu seiner Beute, hatte aber kaum mehr als einen Schritt getan, da stieß ein Schwarm Wildgänse herab. Er legte die Hand an die Schläfe und fiel auf ein Knie.
Katsa schoss mit zwei Pfeilen zwei Gänse ab. Dann half sie Bo auf. »Bo, was …«
»Die Gänse. Sie haben mich überrascht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Schon früher konntest du Tiere spüren, aber ihr Auftauchen hat dich nie umgehauen.«
Er prustete vor Lachen, und dann wurde das Gelächter zu einem Seufzer. »Katsa! Versuch dir vorzustellen, wie das für mich ist. Meine Gabe zeigt mir jede Einzelheit des Bergs über mir und den bewaldeten Hang unter mir. Ich spüre die Bewegung jedes Fischs im Teich und jedes Vogels in den Bäumen. Das Eis überzieht wieder unser Wasserloch. In den Wolken bildet sich Schnee, Katsa. In ein paar Minuten wird es wieder schneien.« Er hatte ihr jetzt eindringlich das Gesicht zugewandt. »Skye und Bitterblue sind in der Hütte. Bitterblue macht sich meinetwegen Sorgen, sie glaubt, ich esse nicht genug. Und du bist natürlich auch noch da, jede deiner Bewegungen, dein Körper, deine Kleidung, alle deine Bedenken durchströmen mich. Ihr Sehenden könnt euren Blick fokussieren. Ich kann meine Gabe nicht fokussieren. Ich kann das nicht ausschalten. Wie soll ich auf den Boden unter meinen Füßen achten, wenn mir alles über, unter, vor, hinter und jenseits von mir bewusst ist?«
Er drehte sich um und stapfte zu dem roten Blutfleck. Müde zog er an dem Pfeil im Schnee, bis ein großes, weißes, blutiges Kaninchen zum Vorschein kam. Mit dem Kaninchen in der Hand kam er zu ihr zurück. Da standen sie, dachten über den anderen nach, und Schneeflocken rieselten herab. Katsa konnte sich nicht helfen – sie lächelte über die Bestätigung seiner Vorhersage. Im nächsten Moment lächelte zögernd auch Bo, und als sie die Felsen hinaufkletterten, fasste er sie am Ärmel. »Der Schnee ist verwirrend.«
Sie bestiegen den Hang, und er hielt sich an ihr fest.
Katsa gewöhnte sich an die neue Art, mit der Bo sie betrachtete, jetzt, wo er sie nicht mehr sehen konnte. Natürlich schaute er sie nicht an. Vermutlich würde sie nie mehr die Intensität seines Blicks spüren, von seinen Augen nie mehr gefangen sein. Sie versuchte nicht mehr daran zu denken. Es machte sie dummerweise, unvernünftigerweise traurig.
Doch Bos neuer Umgang mit ihr war ebenfalls intensiv. Es war eine Art
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