Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
Haare.«
» Ach so.«
Gemeinsam gehen wir den Korridor entlang. Der Holzboden knarzt unter unseren Füßen. Mir fehlt das hallende Echo meiner Schritte im Gebäude der Ferox; mir fehlt der kühle, unterirdische Luftstrom; aber am meisten vermisse ich die Ängste der vergangenen Wochen, die mir angesichts der Ängste, die ich jetzt ausstehe, ganz unbedeutend vorkommen.
Wir verlassen das Gebäude. Die Luft draußen liegt schwer auf mir, wie ein Kissen, das mir die Luft zum Atmen nimmt. Es riecht nach grüner Natur, wie ein zerriebenes Blatt.
» Ahnt jemand, dass du Marcus’ Sohn bist?«, fragt Caleb. » Einer von den Altruan, meine ich?«
» Soweit ich weiß nicht«, sagt Tobias und wirft Caleb einen Blick zu. » Und ich würde es sehr begrüßen, wenn du es nicht rumposaunen würdest.«
» Das brauche ich gar nicht, denn das sieht jeder, wenn er nicht gerade blind ist.« Caleb starrt ihn missmutig an. » Wie alt bist du überhaupt?«
» Achtzehn.«
» Und du meinst nicht, dass du zu alt bist, um mit meiner kleinen Schwester zusammen zu sein?«
Tobias lacht kurz auf. » Sie ist nicht deine kleine irgendwas.«
» Hört auf. Alle beide«, sage ich. Vor uns geht eine Gruppe gelb gekleideter Menschen auf ein geräumiges, flaches Gebäude zu, das ganz aus Glas erbaut ist. Das Sonnenlicht, das sich in den Scheiben spiegelt, blendet mich. Ich halte die Hand schützend vor meine Augen und gehe weiter.
Die Türen des Gebäudes vor uns stehen weit offen. Am Rand des runden Gewächshauses wachsen Pflanzen und Bäume in Trögen voller Wasser oder in kleinen Teichen. Dutzende von Ventilatoren wälzen lediglich die heiße Luft um, sodass ich jetzt schon schwitze. Aber daran verschwende ich keinen Gedanken mehr, als sich die Menschenmenge vor mir lichtet und ich den Rest des Raums sehe.
In seiner Mitte wächst ein riesiger Baum, dessen Äste den Großteil des Gewächshauses überspannen. Seine Wurzeln quellen aus dem Boden hervor und bilden ein dichtes Netz. Zwischen den Wurzeln sehe ich keine Erde, sondern Wasser und Metallstangen, die die Wurzeln an ihrem Platz halten. Ich dürfte eigentlich nicht überrascht sein, immerhin verbringen die Amite ihr gesamtes Leben damit, mithilfe von Ken-Technik solche Kunststücke bei der Pflanzenzucht zu bewirken.
Mitten zwischen den Wurzeln steht Johanna Reyes; ihr Haar fällt über die vernarbte Gesichtshälfte. Im Unterricht über die Geschichte der Fraktionen habe ich gelernt, dass die Amite keinen offiziellen Anführer haben– sie stimmen über alles ab, und jedes Mal so gut wie einstimmig. Sie alle sind Teile eines gemeinsamen Verstands und Johanna ist ihr Sprachrohr.
Die Amite setzen sich auf den Boden, die meisten mit überkreuzten Beinen, in Gruppen und kleinen Ansammlungen, die mich irgendwie an die Wurzeln des Baumes erinnern. Links von mir sitzen die Altruan in dicht gedrängten Reihen. Ich lasse den Blick über die Menge schweifen, bis mir klar wird, wonach ich Ausschau halte: nach meinen Eltern.
Ich schlucke heftig und versuche, nicht mehr daran zu denken. Tobias berührt mich am Rücken und führt mich an den Rand des Versammlungsplatzes, hinter die Altruan. Bevor wir uns setzen, flüstert er mir leise ins Ohr: » Mir gefällt dein Haar, so wie es jetzt ist.«
Ich bringe ein flüchtiges Lächeln zustande und lehne mich an ihn, als wir uns setzen, mein Arm an seinem.
Johanna hebt die Hand und senkt den Kopf. Noch ehe ich den nächsten Atemzug getan habe, sind alle Unterhaltungen im Raum bereits verstummt. Die Amite um mich herum sitzen schweigend da, manche mit geschlossenen Augen, manche bewegen ihre Lippen und murmeln etwas, das ich nicht verstehe. Andere starren einfach in der Ferne.
Die Sekunden verstreichen schmerzhaft langsam. Als Johanna ihren Kopf wieder hebt, fühle ich mich völlig ausgelaugt.
» Heute stellt sich uns ein dringendes Problem«, beginnt sie, » denn wie sollen wir uns in diesen Zeiten des Kriegs als friedliebende Menschen verhalten?«
Jeder Amite im Raum wendet sich an seinen Nachbarn und beginnt zu reden.
» Wie kriegen sie auf die Art und Weise je etwas auf die Reihe?«, frage ich, als die Minuten unter nicht enden wollendem Geschnatter vergehen.
» Ihnen geht es nicht um Leistung oder Effektivität«, sagt Tobias. » Es kommt auf die gemeinschaftliche Einigung an. Pass auf.«
Wenige Schritte von uns entfernt erheben sich zwei gelb gekleidete Frauen und schließen sich einer Gruppe von drei Männern an. Ein junger Mann setzt sich in
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