Die Betrogenen
unaufdringlich wie vollendet, manhätte sie aristokratisch genannt, gäbe es unterm Adel nicht so viele Rüpel. Und dann die Fülle der Anekdoten, von denen er überquoll, wenn er in Laune war und nicht, was auch vorkam, etwas Leidendes aus feinen Poren oder Fissuren aus ihm herauszutreten und sich wie in einer Wolke um ihn zu verdichten schien.
Dem verehrten Freund zu lauschen, mußte Karl sich eingestehen, war fast noch angenehmer als ihn zu lesen, wie er seit einiger Zeit bemerkt hatte. Früher! Da war Bittner ihm erschienen wie der strahlende Jupiter selbst, Autorität war noch ein viel zu schwaches Wort dafür. Keines seiner Edikte verhallte ungehört; oft waren sie ja auch donnernd genug. Ein neues Buch von ihm, in der Verlagsvorschau angekündigt und von da an freudig erwartet, war jedesmal ein Ereignis, das war die Eröffnung eines Tempels, den man gesenkten Hauptes betrat, die staubigen Schuhe des Alltags zog man dafür aus.
Auch später, als er ihn näher kennengelernt und sie sich angefreundet hatten, soweit das mit einem Bittner überhaupt möglich war, hatte Karl dieses Tempelgefühl nie ganz abgestreift. Zum Tempel gehörte, daß Bittner die Schächer daraus mit Geißelhieben vertrieb. So streng, ja herrisch er sich auch öffentlich gab, so sanft war er im Umgang mit Karl. Er hatte Karls Mutter verehrt, stille Poetin, die sie war, und davon hatte der Sohn profitiert. Karl fragte sich manchmal, ob er es eigentlich verdiene; die Emailleseiner Bittner-Bewunderung wies inzwischen ja schon einige Kratzer auf, oder geradezu eine Krakelur.
Für ihr heutiges Treffen hatten sie einen Spaziergang durch den Stadtpark geplant; in der Gartenwirtschaft am Flüßchen wollten sie dann, in Bittners Worten, eine kleine Kollation zu sich nehmen. Und jetzt hieß es Schritt halten mit dem Meister, was nicht deshalb schwierig war, weil er vorangeeilt wäre, sondern weil er immer wieder plötzlich stehenblieb, ohne dabei je den Faden seiner Rede zu verlieren.
War das schon die Schaufensterkrankheit? Aber Bittner wirkte wie das blühende Leben selbst; braungebrannt wie immer und schlank, im sandfarbenen, leicht abgewetzten Jackett, in dem er ab und zu ruckartig die Schultern nach oben zog. Wie lange es wohl dauerte, bis einer der heiklen Punkte zur Sprache käme? Aber vorerst hatte Bittner ja ein anderes Thema angeschlagen. Die Namen – die vergaß auch Karl immer öfter, besonders dann, wenn sich ein Wort in ihnen verbarg. Entweder Name oder Wort, beides zusammen biß sich. Immerzu brauchte Karl Eselsbrücken, um sich die einfachsten Namen zu merken, die durch Wörter verdorben waren; auf eine davon war er allerdings stolz. Bittner würde sie sicher sofort erraten.
Ob er seine Eselsbrücke für einen französischen Komponisten hören wollte?
«Aber mit Vergnügen!» Die laue Luft zupfte an Bittners noch vollem Haar.
Das war eine ganz besondere, die goldene Eselsbrücke, wenn Bittner so wolle: «Das Wort Eselsbrücke selbst.» Denn auf dem Esel der Bremer Stadtmusikanten – Musikanten! – stand ganz oben wer?
Bittner schaute Karl fragend an.
«Der Hahn.»
Bittner neigte anerkennend den Kopf zur linken. «Oh, Reynaldo Hahn! Kein Schubert, aber doch sehr hübsch.» Und ebenso hübsch gefunden. Hatte Karl noch weitere Eselsbrücken zu bieten?
Nein, aber da gab es einen anderen Fall. Da versagte Karl fast jede Woche, und auch jetzt fiel ihm der Name nicht ein.
Um wen handelte es sich denn, wenn er es umschrieb?
Also, fast jede Woche mußte Karl an einen französischen Autor denken, und zwar jedesmal, wenn er morgens seine Kapsel Johanniskraut aus der Großpackung drückte und sie ihm dabei wieder einmal ins Waschbecken fiel.
«Ach so, Johanniskraut?» Bittner hob die Augenbrauen. «Sie also auch?»
Ja, und dabei also mußte Karl jedesmal an diesen Schriftsteller denken, dessen Name ihm partout nie einfiel, und an eine Geschichte aus einem Roman. Sie spielte in China unterm weißen Terror. Am Bahnsteig gibt ein gefangenerAufständischer seine Zyankali-Kapsel zwei andern Männern, bevor die Lokomotive einfährt und er im Kessel lebendig verbrannt wird …
Bittner blieb stehen und runzelte die Stirn. «Warten Sie, ist das nicht … Malraux.»
Natürlich! Von wegen nachlassendes Gedächtnis; Bittner kannte alles und vergaß offenbar nichts, das war bloß gespielte Bescheidenheit. Daß er in seiner Privatgelehrtheit auch ein halber Sinologe war, mußte hier noch nicht einmal eine Rolle gespielt haben. Obwohl Karl
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