Die Bibel
Vorgänge mehrfach, aber oft sich scheinbar widersprechend, erzählt werden.
Alle Texte des Alten Testaments berichten von den Erfahrungen des Volkes Israel mit seinem Gott. Es ist also gedeutete Geschichte,die hier in vielfältigen Erzählungen durch die Jahrhunderte wuchs und verdichtet wurde. Die ersten Lieder, Sprüche, Rechtssätze und Sagen sind ungefähr zwischen 1200 und 1000 vor Christus entstanden, die jüngsten Texte, etwa das Buch Daniel oder manche Psalmen, erst um 150 vor Christus, das Buch der Weisheit sogar erst um 30 nach Christus. Und dann hat es noch einmal siebzig Jahre gedauert, bis jüdische Theologen eine endgültige Auswahl trafen und sagten: Das ist nun die Heilige Schrift der Juden.
Es liegen also mehr als tausend Jahre zwischen den jüngsten und ältesten Texten des Alten Testaments. Zwischen dem ersten und zweiten Schöpfungsbericht ungefähr vierhundert Jahre. Der erste Bericht aus dem vorigen Kapitel ist der jüngere, modernere, abstraktere. Der ältere, populärere, dem wir uns jetzt widmen, erzählt die Geschichte viel anschaulicher und farbiger. Die christlichen Maler schöpften ihre Bilder hauptsächlich aus dieser älteren Geschichte. Daher haben wir sie lebendiger vor Augen.
Im ersten Bericht schafft Gott aus dem Chaos den Kosmos und zuletzt den Menschen. Hier ist der Mensch die Spitze einer Pyramide. Im zweiten schafft Gott zuerst den Menschen und baut um ihn herum aus der Wüste einen Garten. Hier ist der Mensch der Mittelpunkt eines Kreises und wird so zum Mittelpunkt der Welt.
Es war noch kein Strauch des Feldes gewachsen auf der Erde, noch irgendein Kraut auf dem Feld, denn Gott hatte es noch nicht regnen lassen, und es war kein Mensch da, um das Land zu bebauen.
Da machte Gott den Menschen aus einem Erdenkloß und blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.
Gott erschafft noch nicht durchs bloße Wort, er braucht für den Menschen einen Rohstoff, Erde, die auf Hebräisch «adama» heißt. Ihr bläst er seinen göttlichen Odem ein, und erst dadurch entsteht aus adama Adam, der Mensch, die Menschheit.
Der Erzähler des zweiten Berichts kümmert sich noch nicht um die Entstehung von Himmel und Erde und den Fortschritt von der unbelebten zur belebten Materie. Ihn interessiert nicht die Erschaffung der Welt, sondern die Erschaffung des Menschen. Und ganz besonders die Beziehung des Geschöpfs zu seinem Schöpfer.
Er, der Schöpfer, erscheint in dieser zweiten Erzählung menschlicher und zärtlicher als in der ersten. Wie ein Töpfer formt er Mensch und Tier. Wie ein Gärtner pflanzt er einen Garten. Wie ein Vater sorgt er für seine Geschöpfe, indem er sie in den Garten setzt, und lässt
aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen
. Wir sehen Gott bei der Arbeit zu.
Wie ein Großvater seinem Enkel ein Spielzeug schnitzt und neugierig beobachtet, was er damit anstellt, so bringt Gott all die Tiere, die er nun erschafft, zu Adam,
dass Gott sähe, wie Adam sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen
.
Es ist eine Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch, die sich hier anbahnt.
Zur Liebe gehören Freiheit und Vertrauen, aber auch die Respektierung bestimmter Grenzen. Dies wird deutlich, wo es heißt, von jedem Baum dürfe der Mensch nach Belieben essen, nur vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen nicht. Tut er’s aber doch, muss er sterben.
Dieses Verbot kommt für moderne Menschen so überraschend, wirkt so schroff, unbegründet und durch die Todesdrohung so überzogen, dass es den Zauber dieses Anfangs fast vollständig unter sich begräbt. Kopfschüttelnd fragen wir uns: Was hat Gott dagegen, dass wir uns um Erkenntnis bemühen? Will er uns dumm und naiv halten wie Sklaven? Steht das Verbot nicht im Widerspruch zum göttlichen Auftrag, sich die Erde untertan zu machen?
Noch die letzten päpstlichen Zensoren hatten möglicherweise diesen «Baum der Erkenntnis» im Sinn, wenn sie besten Gewissens bestimmte Bücher auf den Index setzten und ganz unschuldig glaubten, das gemeine Volk vor bestimmten Erkenntnissen schützen zu müssen. Der Kampf der Kirche gegen die Aufklärung wurde vermutlich auch von der verbotenen Frucht des Erkenntnisbaums gespeist. Zu viel Wissen frommt dem Frommen nicht, dachten die Kleriker.
Alles in uns lehnt sich
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