Die blaue Liste
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Düsseldorf, 1. April 1991
Eine halbe Stunde vor Mitternacht betrat der Präsident sein Arbeitszimmer im ersten Stock.
Er fühlte sich sicher, denn schließlich war er einer der bestbewachten Männer Deutschlands. Vor der Eingangstür seines Hauses
stand ein Polizeifahrzeug mit vier bewaffneten Beamten, die halbstündlich um sein Haus patrouillierten. Kurz nach seinem Amtsantritt
waren die Fenster des Erdgeschosses seines Privathauses mit kugelsicherem Glas ausgestattet worden. Morgen früh um sieben
Uhr würde ihn eine Eskorte bewaffneter Polizisten der Einsatzgruppe Bonn des Bundeskriminalamtes in einem gepanzerten BMW
zum Flughafen Lohhausen fahren, und bei seiner Ankunft in Tegel würde ihn direkt auf dem Rollfeld eine weitere Kolonne von
zivilen Polizeifahrzeugen erwarten, die ihn sicher zu seinem Berliner Amtssitz bringen würde.
Niemand hatte ihm jedoch gesagt, dass die Sicherheitsstufe für sein Düsseldorfer Wohnhaus herabgesetzt worden war, von der
höchsten Stufe »Eins« auf »Zwei«, während die Vorkehrungen an seinem Berliner Arbeitsplatz auf der höchsten Ebene beibehalten
worden waren. Diese Anweisung, deren Urheber man nie feststellen würde, führte auf dem üblichen Dienstweg zu der geänderten
Vorschrift an die Besatzung des Streifenwagens: In Zukunft sei auf Kontrollen des Schrebergartenviertels zu verzichten, das
seiner Wohnung gegenüberlag.
Deshalb blieben die beiden Männer ungestört, die sich dort in einem der Kleingärten aufhielten. Der Jüngere spähte unentwegt
durch ein Fernglas zum schräg gegenüberliegenden Haus und gab seine Beobachtungen an einen hageren, durchtrainiert wirkenden
Mann mit fahlgelbemBürstenhaarschnitt weiter, der noch einmal den Sitz des Zielfernrohrs auf dem militärischen Präzisionsgewehr prüfte.
Der Präsident setzte sich in den wuchtigen, mit dunkelblauem Leder bespannten Sessel und zog sich mit einer schnellen Bewegung
an den Schreibtisch heran. Er fand in der Dunkelheit die beiden Schalter für die Schreibtischleuchte und für die hinter einer
Holzblende verborgenen Lampen des Bücherregals. Der Raum erleuchtete sich.
Vor ihm lag noch immer das Dokument, über das er seit drei Wochen unentwegt grübelte. Er hatte den Text so oft gelesen, dass
er ihn nahezu auswendig konnte. Es waren sechs eng beschriebene, auf blaues Papier gedruckte Seiten, auf denen der Verfasser
weder rechts noch links einen Rand für Notizen gelassen hatte, so als würde seine Beweisführung jeden schriftlichen Kommentar
erübrigen.
Der Präsident, ein kräftiger, hoch gewachsener Mann mit zurückfliehendem Haaransatz, lehnte sich in seinem Sessel zurück.
In der rechten Hand hielt er die Blaue Liste, wie er das Dokument insgeheim nannte, und dachte nach. Für Detlef Carsten Rohwedder
war die Präsidentschaft der Berliner Treuhandgesellschaft das dritte wichtige Amt, das er ausfüllte. Lange Jahre hatte er
unter Bundeskanzler Helmut Schmidt als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium gearbeitet, bevor er sich hatte überreden
lassen, den Chefposten im angeschlagenen Hösch-Konzern zu übernehmen. In wenigen Monaten gelang ihm die Sanierung des Stahlunternehmens,
ohne dass ein Arbeiter entlassen werden musste. Diese Meisterleistung, verbunden mit seiner politischen Erfahrung, war der
Grund, warum ihn Helmut Kohl auf den Chefposten der Treuhandgesellschaft berief.
Die letzte Regierung der DDR hatte beschlossen, das produktive Eigentum des Staates in einer einzigen Gesellschaft zusammenzufassen.
Die Treuhandgesellschaft wurde zu einem Superkonzern, der alle staatlichen Betriebe der DDR besaß. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung
hatte dieBundesregierung Rohwedder zu ihrem Präsidenten berufen. Anfänglich schwebte ihm eine ähnliche Lösung vor, wie er sie für den
Hösch-Konzern angewandt hatte. Er plante, die maroden Betriebe zu sanieren, ohne die dort Beschäftigten zu Tausenden auf die
Straße zu setzen. Als überzeugtem Sozialdemokraten widerstrebte ihm die Hau-Ruck-Methode mancher Manager, die mit möglichst
wenig Arbeitern und Angestellten optimale Betriebsergebnisse erzielen wollten.
Rohwedder war sich jedoch darüber im Klaren, dass er sich mit seiner Haltung angreifbar machte. Im Verwaltungsrat der Treuhand
saßen etliche Vertreter von Firmen aus dem Westen, die ihre östlichen Konkurrenten aufkaufen wollten, um sich deren Märkte
anzueignen. Sie befürchteten, durch Rohwedders Kurs würden im
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