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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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dunkelblauen Boxershorts
     sollten zu den neuen Jeans passen, er wählte ein helles, leicht ockerfarbenes Shirt. Es passte zu dem dunkelblauen Jackett,
     in das er nun mit einer schnellen Bewegung schlüpfte.
    Noch ohne Schuhe ging er in seinen Büroraum und fuhr den Rechner hoch. Als die Eingabeaufforderung für das Kennwort aufleuchtete,
     drückte Dengler mit der Esc-Taste dieses Fenster fort. Er brauchte kein Passwort. Über den Netscape-Navigator loggte er sich
     ins Internet ein und rief die Seite der Citibank auf.
    Sein Guthaben betrug 4578,34 Euro. Das Bundeskriminalamt hatte ihm sein letztes Gehalt immer noch nicht überwiesen. In einer
     Woche würden Miete, Nebenkosten und die monatliche Überweisung ans Jugendamt fällig werden. Hoffentlich traf bis dahin das
     Geld ein. Er überlegte: Zwei oder drei Monate würde er mit diesem Betrag über die Runden kommen. Er musste unbedingt Geld
     verdienen. Dengler verließ das Internet, startete Word und begann, die Anzeige zu entwerfen.
    * * *
    Kurz vor neun Uhr nickte er zufrieden. Er las den Text noch einmal sorgfältig durch, korrigierte zwei Schreibfehler und druckte
     ihn aus. Das Blatt steckte er in die Innentasche seines Jacketts. Er zog ein paar schwarze Slipper an und verließ die Wohnung.
    Nach drei Minuten erreichte er das Brenners. Mario saß bereits an einem kleinen Tisch an der Fensterfront des Lokals und rührte in einem Milchkaffee. Er winkte ihm zu.
     AlsDengler eintrat, nölte Bob Dylan mit ungewohnt engagierter Stimme aus den Lautsprechern:
    You got gangsters in power
    and lawbreakers making rules.
    When you gonna wake up ...
    »Darf ich mich setzen?«
    »Ich frühstücke nicht mit Bullen.«
    »Ich bin kein Bulle mehr.«
    »Einmal Bulle, immer Bulle.«
    Beide lachten; dann lagen sie sich in den Armen. Mario und Dengler stammten beide aus Altglashütten, einem kleinen Dorf im
     Südschwarzwald. Denglers Mutter bewirtschaftete nach dem Tod seines Vaters den kleinen Bauernhof alleine weiter, bis sie ihn
     vor einigen Jahren in eine Ferienpension umbauen ließ. Marios Mutter wohnte in einer Zweizimmerwohnung im ersten Stock des
     Dorfbahnhofes. Tagsüber arbeitete sie bei der Rhodia, einem Chemiewerk in Freiburg.
    Sie hatte nie geheiratet, und niemand außer ihr wusste, wer Marios Vater war. Ein schöner Italiener – mehr gab sie nie preis.
    Mario sah man seinen italienischen Vater sofort an. Er war nicht sonderlich groß gewachsen, maß sicherlich nur wenig über
     einen Meter siebzig. Die schwarzen Haare trug er schulterlang, streng nach hinten gekämmt und häufig mit einem Haarband mühsam
     gebändigt. Sein Vater hatte ihm das lebhafte Temperament vermacht, das Gestikulieren mit beiden Händen, das Argumentieren
     mit dem ganzen Körper.
    Obwohl er drei Jahre jünger war als Dengler, wählte er sich damals den Älteren als Freund und ließ sich davon auch dann nicht
     abbringen, als Georg die Anhänglichkeit des Jüngeren unangenehm, ja ärgerlich wurde und er ihn fortschickte. Doch am nächsten
     Tag war Mario wieder da, als habe er dassichere Gefühl, dass sie, die beiden vaterlosen Außenseiter der Dorfgemeinschaft, letztlich für eine Freundschaft bestimmt
     seien, die mehr als nur den Altersunterschied überstehen würde. Irgendwann kapitulierte Georg und akzeptierte die Gefolgschaft
     des Jüngeren, zunächst nur als eine Art Eleve, den er mit kleineren Aufträgen und Diensten demütigte, doch schon bald als
     seinen besten und einzigen Freund anerkannte.
    Später trennten sich ihre Wege, doch die Verbindung riss nie ab. Mario begann in Freiburg eine Anstreicherlehre, die er bald
     wieder abbrach. Danach malte er Bilder, immer Vater-und-Sohn-Motive, alle entweder in einem toskanischen Ocker gehalten oder
     in einer Farbsinfonie von Rot, Blau und Gelb. Dengler wusste, dass ein Sammler ihm ein- oder zweimal im Jahr ein Bild abkaufte,
     doch wer dieser Käufer war, verriet Mario niemandem, nicht einmal Georg.
    Mit der gleichen Besessenheit, mit der Mario die großen Leinwände füllte, erschuf er sich seine italienische Identität, wie
     eine zweite, selbst erwählte Haut. Er erlernte die Sprache seines unbekannten Vaters mit einer Verbissenheit und Energie,
     die der grüblerische Dengler nie aufgebracht hätte. Du weißt, ich werde nie damit zufrieden sein, antwortete Mario jedes Mal,
     wenn Georg sich nach dem Fortschritt seiner Sprachstudien erkundigte.
    Ebenso stürzte er sich mit einer nie enden wollenden Begeisterung aufs Kochen.

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