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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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beging, konnte ich ihr daraus keinen Vorwurf machen. Dreiunddreißig Jahre hatten wir unter einem Dach gelebt, und als wir schließlich auseinander gingen, war unterm Strich kaum noch etwas übrig.
    Ich hatte Rachel erklärt, meine Tage seien gezählt, aber das war nur eine hitzköpfige Erwiderung auf ihre unerwünschten Ratschläge gewesen, jähzornig und völlig übertrieben. Mein Lungenkrebs befand sich in Remission, und nach dem, was der Onkologe mir bei der letzten Untersuchung gesagt hatte, bestand Grund zu verhaltenem Optimismus. Das hieß jedoch nicht, dass ich ihm traute. Der Krebs hatte mir einen solchen Schock versetzt, dass ich immer noch nicht daran glaubte, die Krankheit überleben zukönnen. Ich hatte mich aufgegeben, und nachdem mir der Tumor entfernt worden war und ich die lähmenden Torturen von Strahlenbehandlung und Chemo, die langwierigen Zustände von Übelkeit und Benommenheit, den Verlust meiner Haare, den Verlust meiner Willenskraft, den Verlust meiner Arbeit und den Verlust meiner Frau überstanden hatte, konnte ich mir kaum vorstellen, wie es weitergehen sollte. Daher Brooklyn. Daher meine unbewusste Rückkehr an den Ort, wo meine Geschichte angefangen hatte. Ich war fast sechzig Jahre alt und wusste nicht, wie viel Zeit mir noch blieb. Vielleicht noch zwanzig Jahre, vielleicht nur noch ein paar Monate. Unabhängig von der ärztlichen Prognose meines Zustands galt für mich die Devise, nichts mehr als selbstverständlich zu betrachten. Solange ich am Leben war, musste ich einen Weg finden, damit noch einmal von vorn anzufangen, aber selbst wenn ich nicht mehr lange zu leben hatte, konnte ich nicht bloß herumsitzen und auf das Ende warten. Wie üblich hatte meine wissenschaftlich ausgebildete Tochter Recht, auch wenn ich zu störrisch gewesen war, das zuzugeben. Ich musste mich beschäftigen. Ich musste meinen lahmen Hintern hochkriegen und etwas tun.
    Mein Einzug fand zu Beginn des Frühjahrs statt, und in den ersten Wochen füllte ich meine Zeit mit Erkundungsgängen in der Nachbarschaft aus, machte lange Spaziergänge im Park und pflanzte Blumen in meinem Garten – einem kleinen, mit Unrat übersäten Stückchen Erde, um das sich seit Jahren niemand gekümmert hatte. Ich ließ mir im Park Slope Barbershop an der Seventh Avenue die nachgewachsenen Haare schneiden, lieh mir Videos im Movie Heaven und sah mich häufig in Brightman’s Attic um, einem voll gestopften, schlecht organisierten Antiquariat, das einem schillernden Homosexuellen namens Harry Brightman gehörte (mehr über ihn später). Das Frühstück machte ichmir meistens selbst in meiner Wohnung, aber da ich ungern koche und auch gar kein Talent dafür habe, aß ich mittags und abends in Restaurants – immer allein, immer mit einem aufgeschlagenen Buch vor mir, immer mit großem Bedacht kauend, um die Mahlzeit so lange wie möglich hinzuziehen. Nachdem ich einige Alternativen in der Nähe ausprobiert hatte, wählte ich den Cosmic Diner zu meinem Stammlokal. Das Essen dort war bestenfalls mittelmäßig, aber es gab eine entzückende Kellnerin, eine Puertoricanerin namens Marina, in die ich mich sofort verknallt hatte. Sie war halb so alt wie ich und schon verheiratet, weshalb eine Affäre mit ihr für mich nicht in Frage kam, aber sie war so herrlich anzuschauen, so freundlich im Umgang mit mir, und sie lachte so bereitwillig über meine nicht sehr komischen Witze, dass ich mich an ihren freien Tagen buchstäblich nach ihr verzehrte. Streng anthropologisch betrachtet, stellte ich fest, dass Brooklyner weniger abgeneigt sind, mit Fremden zu sprechen, als jedes andere Völkchen, dem ich je begegnet war. Sie mischen sich nach Belieben in anderer Leute Angelegenheiten ein (alte Frauen, die junge Mütter schelten, weil sie ihre Kinder nicht warm genug anziehen; Passanten, die Hundebesitzer anschnauzen, weil sie zu fest an der Leine zerren); sie zanken sich wie geistesgestörte Vierjährige um einen Parkplatz; sie verblüffen einen aus heiterem Himmel mit geistreichen Sprüchen. Eines Sonntagmorgens betrat ich ein überfülltes Deli mit dem absurden Namen La Bagel Delight. Ich wollte einen Zimt-Rosinen-Bagel verlangen, aber die Zunge gehorchte mir nicht, und es kam etwas heraus wie
Zimt-Reagan
. Postwendend erwiderte der junge Mann hinter der Theke: «Tut mir Leid, die führen wir nicht. Wie wär’s stattdessen mit einem Pumpernixon?» Fix. So verdammt fix, ich hätte mir fast in die Hose gemacht.
    Nach diesem unabsichtlichen

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