Die Brooklyn-Revue
gab ich mein aus einer einzigen Schachtel bestehendes Ordnungssystem auf und benutzte fortan mehrere Schachteln, in denen ich meine fertigen Texte nach Themen sortieren konnte. Eine für Versprecher, eine für körperliche Missgeschicke, eine für gescheiterte Pläne, eine für Ausrutscher in Gesellschaft und so weiter. Mit der Zeit konzentrierte sich mein Interesse auf die Slapsticksituationen des Alltagslebens. Nicht nur auf die unzähligen Male, wo ich über irgendetwas gestolpert war oder mir irgendwo den Kopf gestoßen hatte, nicht nur darauf, dass mir immer wieder die Brille aus der Hemdtasche rutschte, wenn ich mich bückte, um mir die Schuhe zu binden (gefolgt von der zusätzlichen Demütigung, die Brille durch einen ungeschickten Schritt nach vorn zu zertrampeln), sondern auch auf die selten dämlichen Patzer, die mir seit frühester Kindheit immer wieder unterlaufen waren. Zum Beispiel, wie ich 1952 bei einem Picknick am Labor Day gähnen musste und mir eine Biene in den aufgerissenen Mund flog, die ich, von Panik undEkel überwältigt, herunterschluckte, statt sie auszuspucken; oder, noch unwahrscheinlicher, wie ich vor sieben Jahren, geschäftlich unterwegs, meine Bordkarte auf dem Weg ins Flugzeug locker zwischen Daumen und Mittelfinger haltend, von hinten angestoßen wurde, sodass mir die Karte entglitt und genau auf den Schlitz zwischen Gangway und Flugzeugtür zutrudelte – die denkbar schmalste Lücke, höchstens ein paar Millimeter breit –, um sodann zu meiner äußersten Verblüffung geradewegs durch diesen engen Spalt zu segeln und sieben Meter tiefer auf der Rollbahn zu landen.
Das sind nur ein paar Beispiele. In den ersten zwei Monaten schrieb ich Dutzende solcher Geschichten auf, und sosehr ich mich um einen launigen, leichten Ton bemühte, stellte ich bald fest, dass das nicht immer möglich war. Jeder Mensch hat seine düsteren Anwandlungen, und ich gestehe, dass ich nicht selten von Einsamkeit und Niedergeschlagenheit heimgesucht wurde. Ich hatte den Großteil meines Berufslebens mit dem Tod zu tun gehabt und dabei wahrscheinlich so viele schlimme Dinge zu hören bekommen, dass ich mir die Gedanken daran, wenn ich ohnehin schon gedrückter Stimmung war, nicht einfach aus dem Kopf schlagen konnte. Die vielen Menschen, die ich im Lauf der Jahre aufgesucht hatte, die vielen Policen, die ich verkauft hatte, die Angst und Verzweiflung, die ich beim Gespräch mit meinen Kunden kennen gelernt hatte. Schließlich fügte ich meiner Sammlung eine weitere Schachtel hinzu. Auf das Etikett schrieb ich «Grausame Schicksale», und die erste Geschichte, die dort hineinkam, war die von Jonas Weinberg, dem ich 1976 eine Lebensversicherung über eine Million Dollar verkauft hatte – damals ein außerordentlich hoher Betrag. Ich erinnere mich, dass er gerade seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, dasser Internist am Columbia-Presbyterian Hospital war und Englisch mit leicht deutschem Akzent sprach. Wer Lebensversicherungen verkauft, muss sich auf Emotionen gefasst machen, und ein guter Vertreter sollte in der Lage sein, bei den oftmals schwierigen, quälenden Diskussionen mit seinen Kunden einen klaren Kopf zu behalten. Die Aussicht auf den Tod lenkt die Gedanken automatisch auf ernste Dinge, und mag es bei dem Job auch hauptsächlich ums Geld gehen, kommt man doch an den damit verbundenen schwerwiegenden metaphysischen Fragen nicht vorbei. Was ist der Sinn der Existenz? Wie lange habe ich noch zu leben? Was kann ich nach meinem Tod für die Menschen tun, die ich liebe? Dr. Weinberg hatte aufgrund seines Berufs ein scharfes Gespür für die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens, dafür, wie wenig es braucht, unseren Namen aus dem Buch der Lebenden zu streichen. Wir trafen uns in seiner Wohnung am Central Park West, und nachdem ich ihm die Vor- und Nachteile der verschiedenen Policen erläutert hatte, begann er mir aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Er war 1916 in Berlin zur Welt gekommen, erfuhr ich; sein Vater fiel in den Gräben des Ersten Weltkriegs, und so wuchs er bei seiner Mutter auf, einer Schauspielerin, einziges Kind einer enorm auf Unabhängigkeit bedachten und manchmal sehr eigenwilligen Frau, der es nie mehr in den Sinn gekommen war, sich wieder zu verheiraten. Falls ich seine Bemerkungen nicht überinterpretiere, schien mir Dr. Weinberg andeuten zu wollen, dass seine Mutter lieber mit Frauen als mit Männern zusammen war, und in den chaotischen Jahren der Weimarer
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